Ein anderer kleiner Trost in meinem Kummer war der Gedanke, daß er meiner Liebe zustatten kam. Wohl war jeder Besuch, den ich Frau Swann machte, ohne Gilberte zu sehen, mir qualvoll, aber ich fühlte, daß er die Vorstellung, die Gilberte von mir hatte, veredelte.
Daß ich mich übrigens immer, bevor ich zu Frau Swann ging, der Abwesenheit ihrer Tochter versicherte, kam nicht nur von meinem Entschluß, mit Gilberte entzweit zu sein. Ebensosehr spielte vielleicht eine Hoffnung auf Versöhnung mit, die meinem Entschluß zu verzichten sich übergelagert hatte (Verzichten ist ja, wenigstens auf die Dauer, der menschlichen Seele kaum möglich, unter deren Gesetzen eines ist, das gefestigt wird, so oft unversehens verschieden geartete Erinnerungen ihr zufließen, das Gesetz der Intermittenz), und diese Hoffnung verlarvte mir, was dieser Verzicht zu Qualvolles an sich hatte. Was an ihr chimärisch war, wußte ich wohl. Ich war wie ein Armer, der sein trocknes Brot mit weniger Tränen feuchtet, wenn er sich sagt: gleich wird mir vielleicht ein Fremder sein ganzes Vermögen hinterlassen. Wir müssen alle, um die Wirklichkeit erträglich zu machen, uns in unserm Innern einige kleine Tollheiten halten. Meine Hoffnung blieb makelloser – und gleichzeitig vollzog sich die Trennung besser –, wenn ich Gilberte nicht traf. Hätte ich mich Aug in Auge mit ihr bei ihrer Mutter befunden, wir hätten vielleicht nicht wieder gutzumachende Worte gewechselt, durch die unser Zwist endgültig geworden wäre, hätten meine Hoffnung getötet und andererseits mir neue Herzensnot geschaffen, dadurch meine Liebe wiedererweckt und meine Resignation erschwert.
Schon viel früher, lange vor meinem Zwist mit ihrer Tochter, hatte mir Frau Swann gesagt: »Es ist hübsch, daß Sie Gilberte besuchen, aber ich würde mich freuen, wenn Sie auch manchmal für mich herkämen, nicht an meinem Jour, wo Sie sich langweilen würden, weil ich zu viel Leute da habe, sondern an andern Tagen, Sie werden mich zu etwas vorgerückter Stunde stets zu Hause finden.« Indem ich also jetzt sie besuchte, schien ich nur nachträglich einem früher von ihr ausgesprochenen Begehren zu gehorchen. Sehr spät, wenn es schon dunkel wurde, fast zur Zeit, da meine Eltern sich zu Tische setzten, ging ich fort, um Frau Swann einen Besuch zu machen, bei dem ich Gilberte sicher nicht sehen und doch nur an sie denken würde. In dem damals für entlegen geltenden Viertel eines Paris, das düsterer war als das heutige, in dem es selbst im Zentrum keine Elektrizität auf der Straße gab und wenig in den Häusern, genügten die Lampen eines Salons im Parterre oder in einem ziemlich tiefen Zwischenstock – wie dem, in welchem Frau Swanns Empfangsräume lagen –, um die Straße zu beleuchten; zu ihnen erhob der Vorübergehende die Augen, weil er die Anwesenheit eines eleganten Wagens vor der Tür mit ihrem Licht in offenbaren und verschleierten Zusammenhang brachte. Und nicht ohne eine gewisse Erregung mutmaßte er in diesem geheimnisvollen Zusammenhang eine plötzliche Verschiebung eintreten zu sehen, wenn einer dieser Wagen sich in Bewegung setzte; aber dann ließ nur ein Kutscher seine Tiere, damit sie sich nicht erkälteten, auf und ab gehen; und das Geräusch dieser Bewegung wurde eindringlicher dadurch, daß die (schalldämpfenden) Gummiräder dem Schritt der Pferde einen Untergrund von Stille gaben, von dem er sich deutlicher und bestimmter abhob.
Den ›Wintergarten‹, den in jenen Jahren in all diesen Straßen der Vorübergehende gewöhnlich zu sehen bekam, wenn die Wohnung nicht zu hoch über dem Niveau des Trottoirs lag, sieht man heute nur noch in den Heliogravüren der Prachtwerke von P.-J. Stahl; danach scheint er im Gegensatz zu dem spärlichen Blumenschmuck der modernen Louis-XVI-Salons (eine Rose oder Iris in langhalsiger Kristallvase, die keine weitere Blume fassen könnte) mit seinem Überfluß an Zimmerpflanzen und gänzlichen Stilmangel in ihrer Anordnung, bei der Dame des Hauses mehr einer innig-süßen Leidenschaft für Botanik als der kalten Berechnung eines toten Effekts entsprochen zu haben. Er war in den Häusern von damals im großen etwa das, was die winzigen tragbaren Treibhäuschen sind, die man am Neujahrsmorgen unter die früh angesteckte Lampe – die Kinder können nicht so lange warten, bis es tagt – als schönstes mitten zwischen die andern Geschenke stellt, (es wird mit seinen Pflanzen, die man pflegen kann, über die Nacktheit des Winters hinweghelfen); mehr noch als diesen Treibhäuschen selbst glichen die Wintergärten dem, welches man gleich neben ihnen und als Bild in einem schönen Buch sah, auch einem Neujahrgeschenk, zwar nicht als Gabe für die Kinder, aber für Fräulein Lili, die Heldin des Buches, welches die Kinder so entzückte, daß sie noch heute, da sie fast Greise sind, sich fragen, ob in jenen glückseligen Jahren der Winter nicht die schönste Jahreszeit gewesen sei. Durch solch vielgestaltiges Blattwerk, das von der Straße gesehen dem erhellten Fenster Ähnlichkeit mit dem gläsernen Verschlag jener gezeichneten oder wirklichen Kindertreibhäuschen gab, sah der Vorübergehende, wenn er sich auf die Fußspitzen stellte, im Hintergrund des Wintergartens meist einen Mann im Gehrock mit einer Gardenie oder Nelke im Knopfloch vor einer sitzenden Frau stehen, beide undeutlich, wie in einen Topas geschnitten, umgeben von der Atmosphäre des Salons, die der – damals eben erst importierte – Samovar mit Dämpfen durchräucherte, wie sie wohl auch heute noch aufsteigen, nur nimmt sie aus Gewohnheit niemand mehr wahr. Frau Swann hielt sehr auf diesen ›Tee‹; sie meinte Originalität zu zeigen und Charme zu entfalten, wenn sie zu einem Manne sagte: »Sie finden mich täglich zu etwas vorgerückter Stunde zu Hause, kommen Sie und nehmen Sie den Tee bei mir.« Mit einem feinen,