Sie nahm jede Kleinigkeit des Baus in sich auf. Sie konnte die Gefahr spüren, die hinter den Mauern lauerte. Kevin hatte in der Bibliothek zu einem Fall recherchiert, dem er gerade nachging. Dabei hatte eine der Suchgloben ein Signal empfangen. Wann immer auf der Welt mächtige Artefakte eingesetzt wurden, leuchtete auf dem magifizierten Gegenstand ein schwarzer oder weißer Punkt an der entsprechenden Stelle auf. Der Magieausbruch am Rande von London war auf einem der Suchgloben recht deutlich sichtbar gewesen.
Mark schaute sich ebenfalls genauestens um. »Ein unmaskierter Ausbruch dieser Größe und dazu ein Illusionierungszauber – das gefällt mir nicht.«
»Tja, da bleibt uns keine Wahl.« Das wird lustig. Ihr letztes Duell mit Schattenkämpfern lag schon eine Weile zurück. Dank der Interventionen des Rates wurde sie ständig für Recherchearbeiten abgestellt. Einzig Kevin war es zu verdanken, dass sie dieses Mal am Puls der Action sein konnte. Er hatte zuerst Mark und – mit ordentlicher Verzögerung – den Rat informiert.
Während sie auf die Herrenhausbaracke zugingen, erschuf jeder für sich mit dem Contego-Zauber eine Schutzsphäre gegen mögliche Angriffe. Gleichzeitig ließ Jen ihre Sinne schweifen. Da war nichts. Alles ruhig und friedlich. Hätte es nicht den Hauch des Bösen gegeben, der wie ein dunkler Nebel über dem Anwesen lag.
»Sollen wir mal freundlich anklopfen?«, fragte Mark.
Sie nickte. Während er nach dem schmiedeeisernen Ring griff, der in den Kopf eines Kobolds überging, erschuf Jen zwei Feuerbälle in ihren Händen. So konnte sie im Notfall blitzschnell handeln. Im Reflex prüfte sie ihr Sigil. Es pulsierte gleichmäßig, verströmte violette magische Kraft.
Da bräuchte es schon eine Armee, um mich in Gefahr zu bringen.
Das laute Klopfen des Rings, der auf Holz krachte, tönte in der Stille. Nichts. Mark versuchte es kein zweites Mal. Stattdessen nahm er seinen Essenzstab in die Hand, setzte ihn an und brannte ein magisches Symbol in das Hindernis. Kurz flammte es auf dem Holz der Tür auf, dann verwehte diese zu einem feinen Nebelgespinst.
Gemeinsam traten sie ein.
Moder und Fäulnis lagen in der Luft, vermengten sich mit dem Odem des Todes. Blut. Jen bekam eine Gänsehaut. Was hier auch vorgefallen war, sie kamen zu spät. Instinktiv folgte sie einem ihrer klassischen Sinnesorgane, der Nase. Die Eingangshalle blieb zurück. Sie stieg die Treppe empor. Der allgegenwärtige Teppich dämpfte jeden Schritt. Mark bildete die Nachhut. Mittlerweile hatte auch er Feuerbälle entstehen lassen. Sie loderten in dem für ihn typischen grünen Licht.
Die Körper lagen im Salon.
Vier Männer und drei Frauen, alle vornehm gekleidet. In der Luft waberte der Resthauch schwarzer Magie. Jemand hatte ihnen die Lebenskraft ausgesaugt.
»Shit«, entfuhr es Mark. »Ich hasse es, wenn wir zu spät kommen.«
Ein Stöhnen erklang.
Jen rannte zu einem der Liegenden, kniete sich auf den Boden. »Alles ist gut«, sagte sie, »wir sind da.«
Worte trügerischer Hoffnung. Weißes Haar lag ausgefallen auf dem Teppich, Altersflecken bedeckten die Haut. Der Unbekannte würde sterben. Wie alt er vor wenigen Stunden auch gewesen sein mochte – nun war er ein Greis.
»Buch«, röchelte er, »sie wollten den Folianten.«
»Ich verstehe nicht …«
Der Alte unterbrach sie, indem er mit letzter Kraft ihr Handgelenk packte. Ein Schmerz durchzuckte Jens Bewusstsein, breitete sich aus. Ein Bild entstand. Es zeigte einen uralten Folianten, gebunden in brüchiges Leder. Rissige Seiten wurden von Geisterhand umgeblättert. Symbole, ähnlich chinesischen Schriftzeichen, mit schwarzer Tusche geschrieben, bedeckten das Papier. Sie fiel zurück. Zitternd lag Jen auf dem Teppich, das Gesicht von Schweiß überströmt.
»Hey!« Mark kam herbeigeeilt. »Was ist passiert?«
»Wächter«, stieß sie hervor. »Die Toten waren Wächter.«
Er riss die Augen auf. »Aber wie kann das sein?«
Jen rappelte sich auf, zuckte mit den Schultern. In der Bibliothek des Castillos gab es ein Verzeichnis, in dem alle Wächtergruppen und das Artefakt, das sie beschützten, verzeichnet waren. Manch ein gefundenes Objekt war so gefährlich, dass es nicht mit anderen Dingen eingelagert werden konnte. Hierfür gab es die Wächtergruppen. Der Globus hätte ihnen die Referenz mitteilen müssen, als der Magieausbruch geschah.
Jen ging neben dem Toten in die Knie, zog ihr Smartphone hervor und machte ein Bild vom Handgelenk des Mannes. Ein aus ineinander übergehenden Ornamenten verziertes Zeichen war in die Haut gebrannt. »Sobald wir zurück sind, prüfen wir das.«
»Soll ich das Castillo kontaktieren? Kevin könnte die Recherche direkt starten.«
»Nicht nötig«, wehrte Jen ab. »Er«, dabei deutete sie auf den Alten, »hat mir eine Vision geschickt«. Sie rannte zur Tür. »Es ist ein Foliant.«
Gemeinsam erreichten sie die Bibliothek. Gewaltige Regalreihen wuchsen in die Höhe, bedeckt von Büchern. Gewöhnliche Werke. Belletristik, Fachwälzer, Literatur nichtmagischer Menschen. Durch hohe Fenster fiel Dämmerlicht herein, tauchte den Raum in ein Wechselspiel aus Licht und Schatten. Es roch nach altem Papier. Jede Bibliothek wurde dadurch zu etwas Besonderem. Auf einem Beistelltisch lag eine Zeitung – zwei Tage alt, wie das Datum verriet –, daneben stand eine Tasse aus hauchdünnem Porzellan. Seitlich war ein Wappen eingeprägt.
Jen roch an der Tasse. »Schwarztee.«
»Das wirkt, als wäre hier jemand bei einer gemütlichen Lesestunde unterbrochen worden.« Mark deutete auf den Boden neben dem Tischchen. Dort lag ein Buch mit fleckigem Einband.
Sie nickte schweigend. Es wurde auf den ersten Blick deutlich, dass hier jemand etwas gesucht hatte. Die Luft quoll geradezu über von dem fauligen, verdorbenen Atem dunkler Magie. »Sie haben eine Wächtergruppe angegriffen und waren auch noch erfolgreich«, flüsterte Jen. Langsam schritt sie durch den Raum. »Wie kann das nur sein? Das Haus muss eine Festung gewesen sein. Wächtergruppen bewachen die gefährlichsten Gegenstände. Und woher wussten die überhaupt davon?«
Mark ging zum Regal und fuhr mit der Hand über die Buchrücken. »Mal ehrlich, wer kann schon voraussagen, was Saint Germain und die anderen Wahnsinnigen wieder ausbrüten. Auf jeden Fall nichts Gutes.«
Mark kniff die Augen zusammen. Stirnrunzelnd trat er in die Mitte des Raumes. »Hier wurde eine Lokalisierung versucht.«
»Sie wollten den Folianten. Aber erfolgreich waren sie nicht.« Jen trat zielsicher an eines der Regale, stieg die angebrachte Leiter empor und zog ein dünnes Heft hervor.
»Okay«, kam es von Mark, »wenn du das einen Folianten nennst, dann müssen wir noch mal über die Definition sprechen.«
»Spinner.« Er wusste genau, dass der äußere Schein trügen konnte.
Jen legte das Heftchen – ein alter Groschenroman – auf dem Lesetisch ab. Auf dem Cover stand ein verwegen aussehender Pirat mit nacktem Oberkörper auf dem Deck seines Schiffes. Vor ihm kniete eine Frau, den Kopf leicht zur Seite geneigt und dem Betrachter zugewandt. Die Lippen des Piraten berührten ihren Hals.
»Gib es zu, du willst ihn unbedingt lesen.«, sagte Mark.
»Unbedingt. Ich stehe auf romantische Literatur«, sie grinste ihn an. »Damit kann man so schön Feuer machen.«
Sie zog ihren Essenzstab hervor. Bei dem Zauber, den sie nun auszuführen gedachte, musste die Magie direkt im Gegenstand wirken. Es reichte nicht aus, die Machtsymbole in die Luft zu zeichnen. Doch damit sie in Material einwirken konnten, bedurfte es immer eines Essenzstabes. Er kanalisierte die Magie und übertrug sie in den jeweiligen Rohstoff. Nimags – Nichtmagier, also gewöhnliche Menschen