Und doch, wie sehr war auch er bei aller Weltweite und allem Weltverkehr Sohn seines Vaters, dass er seinen glühenden Ehrgeiz nur auf das Hochziel, dem er diente, nie auf persönlichen Vorteil richtete. So streifte auch ihn, den Weltkundigen, das Geschick des weltunkundigen Vaters, dass er ohne äußeren Lohn gedient hatte. Auch an ihm gingen die äußeren Ehren und Würden vorüber, weil er nicht dienern konnte. Die Größen seiner Wissenschaft in Deutschland anerkannten ihn nach Gebühr, sie besuchten ihn auf der Durchreise und standen mit ihm im Briefwechsel. Aber an den Stellen, wo Gewinn und Auszeichnungen zu holen sind, wurde seiner nicht gedacht. Er hatte statt Liebedienerei und Klüngelwesen nur Leistungen aufzuweisen, ein stehender Familienzug, und was ist Leistung, die sich selbst genugtun will? Man lässt es auch damit genug sein; sonst hätte ihm eine führende Stellung an irgendeiner deutschen Klinik zufallen müssen, wo er für sein Können und seinen Charakter ein ganz anderes Betätigungsfeld gefunden hätte als in der Privatpraxis. Vor wenigen Jahren, fast drei Jahrzehnte nach seinem Hingang, erfreute mich ein jüngerer, auf solchem Posten befindlicher Fachkollege des Frühgeschiedenen durch die Mitteilung, dass mein Bruder in der Wissenschaft keineswegs vergessen sei und dass eine seiner chirurgischen Erfindungen, die »Kurzsche Nadel«, immer im Gebrauch geblieben sei, weil sie, ebenso einfach und zweckgerecht wie die Dinge der Natur, gar nicht ersetzt noch verbessert werden könne.
Als ich mit dem Lebensbild fertig war, das erstmals in den »Süddeutschen Monatsheften« erschien, jubelte das Mutterherz. Ich hatte mich nicht in ihr getäuscht. Ihren Liebling so dargestellt zu sehen, wie er in sich selber war, dass auch die Fernerstehenden und die ganz Fremden einen Hauch seines Wesens verspürten, machte sie selig. Ich bin eine maßlos ehrgeizige Mutter, sagte sie meinen Arm pressend. Du hast ihn mir so wiedergegeben, dass alle Mütter mich um einen solchen Sohn beneiden müssen. Die Briefe, die von den Kollegen, von Vertretern der Wissenschaft, von Männern der Feder an mich gerichtet wurden, ließ ich durch seine Mutter beantworten, die dadurch gar nicht aus einer seligen Hochspannung kam und ganz vergaß, dass es ein Toter war, dem alle die Bewunderung und Liebe galt. Sie ließ ihn einfach nicht tot sein. Und als gar Frauen, die ihn lebend nicht gekannt hatten, ihr Herz nachträglich an den hochgesinnten ritterlichen Menschen verloren, schrieb sie ihren überschwenglichen Dank in ein heimlich geführtes poetisches Tagebuch, das ich nach ihrem Tod finden sollte:
O sei gesegnet mir viel tausendfach,
Die du den Bruder riefest wieder wach,
In solchem Glanz ihn ließest auferstehen
Um als Eroberer einherzugehen – – –
Der Zweck war erreicht, ihr Sohn lebte wieder.
Eine zweite Freude konnte ich ihr machen durch die Herausgabe einer größeren Auswahl seiner Gedichte bei Cotta. Aber der Widerhall, den man wohl erhoffen durfte, blieb aus; er war auch darin Sohn seines Vaters. Freund Kröner sagte mir damals, es gebe im ganzen Buchhandel nichts so Unberechenbares wie den Erfolg von Gedichten. So sind sie leider aus dem Buchhandel verschwunden, wo so vieles Wertlose weiterlebt. Um wenigstens einen kleinen Auszug aus dem größeren von 1904 der Allgemeinheit zu erhalten, füge ich hier einen Längsschnitt durch sein Dichten, das zugleich ein Längsschnitt durch sein Leben ist, ein, denn Edgar hat nie eine Zeile geschrieben, die nicht augenblicklicher Ausfluss des Erlebten gewesen wäre: sein Dichten war wie das Harz, das aus einem Riss der Baumrinde quillt. Da ist zuerst der Sturmwind innerer Leidenschaft, der durch die Lieder des Jünglings braust und immerzu Tod und Leben zum Kampfe herausfordern muss, ja sogar des Nachts auf dem Friedhof bei den stillen Toten, zu denen es ihn hinauszieht, umsonst den Frieden sucht:
Kein Todesschauer dämpft den Lebensmut,
Noch heißer über Gräbern kocht mein Blut,
Wer kühlt, die mich verzehrt, die wilde Glut?
Wie glücklich sind die Toten!
Dann kommt all das Schwelgen und Tollen der durchzechten Nächte, dazwischen das geistige Suchen und Ringen bei einsamer mitternächtlicher Studierlampe, wobei weder das eine noch das andere die zehrende Unruhe beschwichtet:
Ruhelos
Laut tönt vom Turm der Glocke Schlag
In stiller Mitternacht.
So hab’ ich stets den andern Tag
Herangewacht.
Und schlägt es eins, ich wache fort
Bei meiner Lampe Licht,
Denn Ruhe, dieses Labewort,
Ich kenn’ es nicht.
Bald sitz’ ich schwärmend beim Gelag,
Bald sinnend und allein.
Die Sonne ist mir und mein Tag
Der Lampenschein.
Flücht’ ich mich in des Schlafes Port,
Was hilft, was nützt mir das?
Es ringt mein Geist im Traume fort,
Weiß nicht nach was.
Es kommt Frauenliebe, rasch mit vollem Gefühl ergriffen und wieder aus der Hand gelassen, denn es ist ja nie das Rechte und Bleibende bei diesem Don Juan wider Willen, der so gerne treu geblieben wäre, hätte er irgend gekonnt:
Ich bin noch immer der alte Narr,
Ich kenne mich jetzt zur Genüge,
Stets täuscht mich wieder der freundliche Trug
Und trügt mich die liebliche Lüge.
Doch wenn mir einmal die Wahrheit blinkt,
Dann muss es anders gären
Und sieden und kochen in meinem Blut
Und Mark und Hirn verzehren – – –
Ach, es gärte und kochte wohl noch lange so weiter, aber die Partnerin zu solch himmelhohem Gefühlsleben sollte auch er niemals finden. Zumeist sind es Abenteuer wie bei dem
Märchen
(Aus einem Zyklus Wiener Erinnerungen)
Ich wandelte am Ring zu später Stunde,
Wo ich oft halbe Nächte schon verbracht,
Der Weltstadt Tosen schwieg in weiter Runde,
Und still und einsam war die Nacht.