Zu den aus meiner Erziehung fließenden Bedrängnissen, die mir den Umgang erschwerten, gesellten sich noch solche in meiner eigenen Brust. Dazu gehörte ganz besonders das Wörtchen Sie. Ich weiß nicht, ob es jemals anderen ähnlich ergangen ist, ich konnte das Wörtlein nicht aussprechen. Meinem natürlichen Sprachgefühl widerstrebte es aufs heftigste, eine anwesende Einzelperson als eine abwesende Mehrzahl zu behandeln. Die nahen Freunde der Eltern verkehrten wie Blutsverwandte im Hause, da verstand es sich von selbst, dass man ihnen das Du zurückgab. Aber jetzt wuchs man heran und fand sich unter lauter Fremden, wo sich das alte homerische Du nicht mehr schicken sollte. Und mit dem Sie war es doch so eine vertrackte Sache. Ich bekrittelte den Zopf ja nicht bei den Erwachsenen, mochten sie es nach ihrer Etikette halten, aber ich als Kind glaubte mich berechtigt, so lange wie möglich jeder Unnatur ferne zu bleiben. Es schien mir, als ginge ich auf Stelzen, wenn ich Sie sagen sollte, ich vermied es, Respektspersonen überhaupt anzureden und drückte mich auf lauter Umwegen um das Sie herum, bis der Kampf dadurch entschieden ward, dass die Menschen mich selber mit Sie anzureden begannen, was bei meiner täuschenden Körpergröße viel zu früh geschah. Da war mir zumute, als sei mir das Tor des Kinderparadieses schmerzhaft auf die Ferse gefallen.
Dieser kindlichen Nöte erinnerte ich mich unlängst, als mir die Schrift Fr. Böckelmanns: ›Ein Fleck im Gewande der deutschen Sprache‹ zugeschickt wurde. Was da über die Wiedereinführung des alten edlen Ihr gesagt ist, von dem Goethe sich so schwer trennte, in das er in seinen späteren Jahren gerne zurückfiel, das alles möchte ich wörtlich unterschreiben. Ich muss jedoch zu den von dem Verfasser gerügten Schäden des Sie noch einen nennen. Es übt im Umgang, verglichen mit dem Vous und You, eine erkältende, entfremdende Wirkung, vor der die ganze Sprache zu erstarren scheint. Ich konnte es späterhin im Auslande nicht fertig bringen, mit Französisch oder Englisch redenden Freunden, wenn sie mir einmal nähergetreten waren, meine eigene Muttersprache zu sprechen, auch wenn ich darum gebeten wurde, denn ich hatte das peinliche Gefühl, mit dem gespreizten Sie auf einmal eine Scheidewand aufzurichten. Die ganze sprachliche Einstellung sträubte sich, aus einem freundschaftlichen Vous in das starre, unpersönliche Sie überzugehen. Das Sie erschwert auch den Ausländern die deutsche Satzbildung (Skandinavier schreiben in deutschen Briefen meistens Sie hat statt: Sie haben) und ist dadurch der Ausbreitung unserer Sprache hinderlich.
Auch in Tübingen fuhr Mama fort, mich selber zu unterrichten, doch handelte sich’s dabei mehr um die lebendige Anregung als um eigentliche Übermittlung des Lehrstoffs, und es blieben viele Lücken, die ich später allein ausfüllen musste. Für den schlechten Ausfall des Arguments entschädigte ich sie dadurch, dass ich den Guten Kameraden von A bis Z in lateinische Verse brachte, wobei allerdings an einer gar zu wackligen Stelle der Papa eine Zeile einflickte, die sich ausnahm wie ein Lappen feines Tuch auf einem verschlissenen Kittel. Aber das gute, leicht befriedigte Mütterchen war hoch erbaut und sang fortan das Uhlandsche Lied am liebsten in meiner Lesart: Habemus commilitonem etc. Dass ich für die lateinische Grammatik noch immer keine Begeisterung zeigte, schrieb sie der Unvollkommenheit ihrer eigenen Kenntnisse zu und sah sich nun nach einem Lehrer für mich um den sie in Gestalt eines blutjungen katholischen Theologen aus dem Konvikt gefunden zu haben glaubte. Allein dieser hielt mich meiner Größe nach für erwachsen, behandelte mich barsch, um sich der fremdartigen Schülerin gegenüber eine Haltung zu geben und verbot mir sogar, ihn anzublicken. Gleich nach der ersten Stunde erklärte er meiner Mutter, dass das Lehramt bei einem jungen Fräulein mit seinem künftigen Beruf unvereinbar sei, und kündigte den Unterricht auf. Aber das ist ja gar kein Fräulein, sagte meine Mutter verblüfft, das ist ein Kind von elf Jahren. Allein er blieb bei seiner Weigerung, und damit fiel das Latein für längere Zeit ganz zu Boden. Die Anfänge der neueren Sprachen brachte sie mir auf dem lebendigen Wege bei, auf dem sie selbst sie von ihren ausländischen Gouvernanten empfangen hatte, während meinen Brüdern auf der Schule auch das Französische und das Englische zu toten Sprachen gemacht wurde. Dies war der einzige Punkt, auf dem meine so sehr erschwerte Ausbildung sich den Brüdern gegenüber im Vorteil befand.
Da mein Tag durch keinen festen Plan gebunden war, schwelgte und praßte ich in einer Fülle von Zeit, von der der erwachsene Mensch sich keine Vorstellung mehr machen kann. Zu allem, was mir einfiel, hatte ich die Muße. Meine liebste, heimlichste Beschäftigung war, in ein mir von der Mama zu diesem Zwecke schon in Kirchheim geschenktes Büchlein eigene Verse zu schreiben. Denn seit sie mir jenes Mal erlaubt hatte, an einer ihrer metrischen Arbeiten teilzunehmen, war in mir der Trieb zu ähnlichen Versuchen erwacht. Mit dem ersten machte ich freilich eine erschütternde Erfahrung, denn der Geist war zur Unzeit über mich gekommen, als ich gerade an einem lateinischen Übungsstück aus dem Middendorf saß, worin ein Begebnis aus dem Leben Alexanders des Großen erzählt war. Da ergab der erste Satz ganz von selbst ein gereimtes, wenn auch äußerst prosaisches Zeilenpaar, und um mich von der Langeweile der Grammatik zu erholen, fuhr ich fort und brachte das ganze Stück in ähnlich hölzerne Verse. Damit weihte ich voller Freude mein neues Büchelchen ein. Aber alsbald wurde mir dieses von den Brüdern entrissen, und die trockene Ernsthaftigkeit des Erzeugnisses erregte ein nicht endendes Gelächter. Weil der lateinische Text mit sine dubio begann, hatte auch ich meinen Gesang mit Ohne Zweifel angehoben, was von unwiderstehlicher Wirkung war. Alle lernten ihn auswendig, um mich zu peinigen, und sobald nur jemand fortan die Worte ohne Zweifel aussprach, wurde ich rot und blass aus Furcht, dass Alfred sie als Stichwort aufnehmen und sogleich die ganze Litanei abschnurren werde. Trotz diesem schrecklichen Fiasko setzte ich aber meine Versuche fort, indem ich mich nun zu einem höheren Flug nach dem Muster Schillerscher Balladen erhob. Die Muse besuchte mich nur des Nachts, wenn alles still im Bette lag. Dann wachte ich unter schaurig süßem Herzklopfen, bis auch der letzte widerstrebende Reim sich einfügte, und wenn am Morgen noch alle Verse beisammen waren, dass ich in irgendeinem sicheren Versteck das Ganze meinem Büchlein einverleiben konnte, so genoss ich die vollkommenste irdische Glückseligkeit. Aber nicht auf lange, denn bei unserem engen Zusammenwohnen ließ sich der Schatz nicht für die Dauer verbergen. Die Gedichte wurden hinter meinem Rücken herumgezeigt, Erwachsene redeten mich darauf an und versetzten das kleine Seelchen in bittere Pein,