Obwohl sie (sozusagen) dem Volk entstammen und letztendlich zu ihm zurückkehrten, entstanden die Romane der Ming-Zeit (1368–1644), wie sie sich im 16. Jahrhundert entwickelten, als bewusst gestaltete Kunstprodukte, als originäre und originelle Kompositionen. Deren Zielpublikum war die zu jener Zeit in China stetig anwachsende städtischen Bildungsschicht.1 Vor allem die sogenannten Literaturbeamten erwiesen sich – wie schon ihre Bezeichnung verrät – als leidenschaftliche Leser und Verfasser von Romanen. Auch Wu Cheng’en gehörte dieser intellektuellen Schicht an, war aber, so erzählt die Überlieferung, in seiner Funktion als Beamter in jeder Hinsicht weniger erfolgreich denn als Literat. Der Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus Huai-an war immer mehr Gelehrter, Dichter und Schriftsteller als Beamter (auch wenn jene Positionen sich im damaligen China nicht ausschlossen, ganz im Gegenteil). Er studierte wohl für mindestens zehn Jahre an der Universität Nanjing Taixue, und die Reise nach Westen verrät Wu Cheng’ens historische Versiertheit wie seine immense philosophische Bildung. Das Werk, das zahlreiche östliche Legenden von China bis Indien aufgreift, künstlerisch gestaltet und zu einem harmonischen Gewebe verknüpft, vereint die verschiedenen Geistesströmungen seiner Entstehungszeit, vom Buddhismus über den Daoismus bis hin zum Volksglauben. Den Kern der Reise nach Westen jedoch bildet das neokonfuzianische Konzept des Selbst. Geprägt von Individualisierung und gesteigerter Selbst-Bewusstheit, charakterisiert dieses neue Verständnis des menschlichen Ich die Geisteswelt der Ming-Zeit mehr als alles andere und konstituierte einen weiteren entscheidenden Faktor für die Entwicklung des klassischen chinesischen Romans (der Roman beschäftigt sich per definitionem mit dem individuellen menschlichen Selbst)2.
Die Reise nach Westen erzählt die fantastischen Abenteuer einer Pilgergruppe, die unterwegs nach Indien ist (also westwärts wandert), um die heiligen Schriften des Buddhismus zu finden und nach China zu bringen. Solche Unterfangen sind belegt, und Wu Cheng’en fand den Stoff für seinen Roman sowohl in historischen Chroniken als auch in zahlreichen Legenden. Hauptinspirationsquelle waren die Berichte und Geschichten um die Pilgerfahrt des Mönchs Xuanzang (602–664) bzw. Tripitaka, der das Vorbild für Wu Cheng’ens Hauptfigur bildet. Die Figur des eher passiven Pilgers wird jedoch schnell überschattet von dem zweiten Protagonisten des Romans, dem Affenkönig Sun Wukong. Diese Gestalt, die in früheren Legenden lediglich die Funktion einer niederen Helferfigur für Xuanzang/Tripitaka übernimmt, wird bei Wu Cheng’en schnell zum Zentrum des Romans – und zu einer der faszinierendsten Schöpfungen der Weltliteratur. Wu Cheng’ens Affenkönig, der seinen Ursprung vermutlich im indischen Rāmāyana-Epos1 hat, ist eine himmlische Gestalt, die von Buddha wegen begangenen Unrechts auf die Erde verbannt wurde, wo Sun Wukong nun nach Wiedergutmachung strebt. Die 100 Kapitel2 der Reise nach Westen erzählen die 81 fantastischen Bewährungsproben Sun Wukongs im Kampf mit Dämonen und Gespenstern – und letzten Endes mit dem eigenen Selbst. Denn, so Clemens Treter, der Affenkönig kann traditionellerweise als Symbol des menschlichen Geistes gedeutet werden, und die Suche nach den heiligen Texten als Reise in das Selbst3. So wird die fantastische Reise nach Westen zu einer vielschichtigen philosophischen, theologischen und nicht zuletzt protopsychologischen Allegorie, während die in ironischem Stil wiedergegebenen Abenteuer des Mönchs, des Affen, des Schweins, des weißen Pferdes und des Pferdeführers in ihrem Kampf gegen die Dämonen zugleich einen der großen komischen Romane der Weltliteratur konstituieren.
Wichtige Werke:
Xiyou ji (Reise nach Westen, 1592)
1 Die drei weiteren ›außergewöhnlichen Bücher‹ sind Sanguozhi yanyi, Shuihu zhuan und Jing Ping Mei.
1 Wie der westliche Roman auch originiert der klassische chinesische Roman zu einem Großteil in einem sprunghaften Anwachsen des Lesepublikums, ausgelöst durch die Verbesserung und Ausweitung des Bildungssystems in der mittleren und späten Ming-Zeit, die ein Bedürfnis für mehr und abwechslungsreicheres Lesematerial entstehen ließ. Gleichzeitig (was sich wechselseitig bedingte) dehnten sich Buchdruck und Buchhandel aus. (vergl. Helwig Schmidt-Glintzer. Geschichte der Chinesischen Literatur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990. S. 426f.).
2 Trotz aller Ähnlichkeiten in der Entstehung des westlichen und des chinesischen Romans dürfen westliche Gattungsbezeichnung nur mit Vorsicht auf letzteren angewandt werden.
1 Das Rāmāyana (Epos von Rāmās Lebenslauf), eines der indischen Nationalepen, erzählt die Geschichte der siebten Inkarnation des Vishnu in der Gestalt von Rāmā; in der Geschichte übernimmt der Affenkönig Sugriva eine entscheidende Rolle. Diese mögliche Inspiration für Wu Cheng’ens Sun Wukong ist ein weiterer Beweis für die große Gelehrsamkeit des Literaturbeamten und seine Fähigkeit, unterschiedliche Traditionen zu einem einheitlichen, harmonischen Ganzen zusammenzufügen.
2 Die heute bekannte Version der Reise nach Westen mit ihren 100 Kapiteln ist wohl das Ergebnis einer Bearbeitung von Wu Cheng’ens Werk aus dem 17. Jahrhundert (vergl. Helwig Schmidt-Glintzer, S. 434).
3 Clemens Treter. »Die Literatur der Ming- und Qing-Zeit«. in: Reinhard Emmerich (Hg.): Chinesische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: Metzler 2004. S. 225–87. hier: S. 244.
MATSUO (MUNEFUSA) BASHŌ
(1644–1694)
Bananenstauden – Die Entdeckung des Kleinen im haiku
Matsuo Bashō kann ohne Übertreibung der größte Lyriker des neuzeitlichen Japans genannt werden. Als Begründer der Gattung des haiku, des epigrammatischen Siebzehn-Silben-Gedichts, kann sein Einfluss auf die Weltliteratur kaum zu hoch eingeschätzt werden.
Das vielleicht berühmteste haiku Matsuo Bashōs ist das sogenannte Froschgedicht, das in zahlreichen Sprachen nachgedichtet und auch parodiert worden ist:
Alter Teich –
Ein Frosch springt hinein
Das Geräusch des Wassers.
Das japanische haiku1 ist eine Gedichtform, die in drei Versen zu (in der Originalsprache) 5–7–5 Silben den Blick auf das Kleine lenkt, auf das momentane Detail. Genau in dieser einfachen Ausschnitthaftigkeit will das haiku die Seele schulen in der erahnenden Erkenntnis des Ganzen. – Auf diese Formel kann nicht nur die Gattung des haiku und die Poesie ihres Begründers gebracht werden, sondern auch das Leben Matsuo Munefusas, der den Künstlernamen Bashö, d. i. ›Bananenstaude‹, trug. Das etwas eigenartig anmutende Pseudonym verdankte der japanische Lyriker seiner bashō-an, seiner Klause aus Bananenstauden im Fukagawa-Viertel in Edo (Tōkyō), in die er sich von 1681 an zurückzog, wenn er Ruhe und Frieden suchte. Bis zu diesem Zeitpunkt trug Matsuo Munefusa vielerlei Dichternamen, vermutlich, um sich von der Samurai-Familie, der er entstammte, abzugrenzen; schlieōlich hatte sich Bashö entschlossen, dem Leben des niederen Adels den Rücken zu kehren und statt dessen ein Dasein als wandernder Wahrheitssucher in genügsamer Einfachheit zu führen. Somit sind Leben und Werk des großen Lyrikers aufs Engste miteinander verflochten.
Bashō begann seine Wahrheitssuche mit einem Studium in Kyōtō, wo er von 1666 an bei angesehenen Meistern studierte, in erster Linie haikai und waka (die traditionellen japanischen Gedichtformen), die klassische chinesische Literatur1 und Kalligraphie. 1672 kam Bashōs erste Verssammlung Kai ōi (›Muschelwettstreit‹) heraus und im gleichen Jahr übersiedelte der Dichter nach Edo, wo er in dem Fischhändler Sugiyama Sampū einen Gönner fand. Bald etablierte sich Bashō als haikai-Meister und Lehrer und konnte ein voll und ganz der Poesie gewidmetes Leben unter Gleichgesinnten führen. Dichtung war für den großen Japaner ein Lebensstil und ein Weg zur Erlangung von Erleuchtung, den er kado nannte (d. i. ›der Weg der Dichtung‹). Edo und die bashō-an wurden zur Heimstatt des Wahrheitssuchers, doch