Die Philosophie seiner Tage steht ganz im Zeichen von Kants „kopernikanischer Wende“. Kants „Transzendentalphilosophie“ wendet sich dem Nachdenken über die Bedingungen unseres Erkennens selbst zu, macht die Erkenntnistheorie anstelle der alten Metaphysik zur „prima philosophia“, zum Ausgangspunkt aller Philosophie. Mit den Anschauungsformen von Raum und Zeit und den Verstandeskategorien ist unser Erkennen Kant zufolge streng auf den Bereich der Erscheinungen beschränkt. Die objektive Ursache dieser immer schon von den subjektiven Voraussetzungen unserer Erkenntnisfähigkeit überformten Erscheinungen allerdings, das „Ding an sich“, bleibt unerkannt, das „ignotum X“, das man zwar eben als die Ursache der Erscheinungen postulieren muss, aber nicht „erkennen“ kann. Kant wird zum Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung philosophischen Denkens, näherhin des Deutschen Idealismus, der in Hegel seinen Höhepunkt findet. Die Denker des Deutschen Idealismus arbeiten sich auf je ihre Weise an den verbleibenden Widersprüchen, unbefriedigenden Erklärungen und „dogmatischen Resten“ bei Kant ab, die sie mit ihren Systemen überwinden wollen. Unbefriedigend zum Beispiel ist bei Kant das nahezu beziehungslose Nebeneinanderbestehen von theoretischer und praktischer Vernunft. Einen Widerspruch stellt es dar, wenn Kant das „Ding an sich“ als Ursache der Welt der Erscheinungen postuliert und damit die Kategorie der Kausalität, die nur im Bereich der Erscheinungen ihre Gültigkeit hat, außerhalb dieses Bereiches anwendet. Nicht geklärt ist auch die Rolle dessen, was der subjektiven Erkenntnis die letzte integrierende Einheit verleiht, Kants „transzendentale Apperzeption“, usw.
Arthur Schopenhauer beschreitet – fernab von denen, die die philosophische Szene beherrschen – hierbei seinen eigenen, höchst originellen Weg. Das unserer Vorstellung von der Welt zugrunde liegende Reale, das kantische Ding an sich, ist für ihn der Wille als universales Lebensprinzip! Bestimmend für diese Einsicht ist es, dass sich der Mensch nicht nur als erkennendes Subjekt, sondern unmittelbar in seiner Leiblichkeit erfährt! Dieser Wille nun manifestiert sich innerhalb der gesamten Natur in immer höheren Stufen der Objektivation, bis er schließlich im Intellekt des Menschen selbst die Voraussetzungen seiner eigenen Anschauung hervorbringt. Unsere Welt, in der wir leben, ist also zugleich ihrem ganzen Wesen nach durch und durch Wille und durch und durch Vorstellung. Der Wille als universales Prinzip der Natur ist das tragende Fundament. In unserem Intellekt wird diese Welt als Wille zur Vorstellung.1
Mit diesem höchst originellen Ansatz, Kants Erkenntnisphilosophie weiterzudenken, blieb Schopenhauer ein Außenseiter. Sein Hauptwerk, das er im Jahr 1818 abschloss, erwies sich als „Flopp“ und wurde eingestampft. Nur einmal bekam er in Berlin die Gelegenheit, sein philosophisches System innerhalb eines Semesters vorzutragen – vor einer Zuhörerschaft, die nahezu an einer Hand abzuzählen war. Gegen den großen Star Hegel hatte Schopenhauer keine Chance. Lange Zeit lebte er völlig zurückgezogen in Frankfurt am Main. Erst am Ende seines Lebens wurde ihm doch noch die Anerkennung zuteil, die sein Werk allemal verdient. Und bis heute bleibt er für eine große Zahl von Menschen, die nie eine philosophische Vorlesung besucht haben, der nahezu einzige Mystagoge ins Nachdenken über die menschliche Existenz und die Welt.
Erste öffentliche Aufmerksamkeit erlangte Schopenhauer durch eben jenes Werk, aus dem dieser Band eine kleine Auswahl besonders schöner Kostproben bietet.2 Die Parerga und Paralipomena (wörtlich etwa: „Nebenarbeiten und Nachträge“) boten in zwei recht voluminösen Bänden allgemein verständliche Formulierungen seiner Weltanschauung, illustrierende Beobachtungen dazu, Reflexionen zu vielen Aspekten des Daseins, die in seinem Hauptwerk nur knapp zur Sprache kommen, und nicht zuletzt eine erfrischende Polemik gegen die etablierte Gelehrtenwelt, die institutionalisierte Religion etc. Schopenhauer vereinigt mehrere Talente in sich: Kants scharfe Analyse, Lichtenbergs geschliffene Polemik und die Weisheit eines Buddha finden sich in ihm gleichermaßen. Überdies erweist er sich auch als ein Meister der „Introspektion“, das heißt der Beobachtung und Analyse innerer psychischer Prozesse am Beispiel seiner selbst.
Diese kleine Auswahl will natürlich zunächst mit Schopenhauer selbst vertraut machen und hat sich deshalb bemüht, möglichst viele seiner Facetten zum Funkeln zu bringen. Ich habe mich nicht gescheut, auch kleine Texte aufzunehmen, die die Grundgedanken seiner Weltanschauung wiedergeben: Hier sind sie nämlich besonders konzise auf den Punkt gebracht und geeignet, Appetit auf Schopenhauers Hauptwerk zu machen. Ein leitender Gesichtspunkt der Auswahl war allerdings – ganz im Sinne Schopenhauers –, beim Leser und bei der Leserin die Lust am „Selbstdenken“ zu wecken. Schopenhauers „Erfolgsrezept“ liegt meines Erachtens vor allem darin begründet, dass er nicht nur ein „System“ vorlegt, sondern dass er in seinem Denken wie Leben zur „philosophischen Existenz“ ermutigt. Es gibt kaum einen Philosophen, bei dem Denken und Leben – sein Vegetarismus, seine anrührende Tierliebe, seine Empfindsamkeit für das Leid anderer, bis hin zu seinen liebenswürdig-kauzigen Seiten – so sehr in Einklang sind. Und entsprechend erfahrungsgesättigt und lebensdurchtränkt sind seine Gedanken. Selbst dann noch, wenn man glaubt, ihm entschieden widersprechen zu müssen, wird man von ihm lernen. Und selbst sein allseits bekannter Pessimismus erweist sich als wirksames Antidot gegen den gerade heutzutage herrschenden Terror des „positiven Denkens“.
So soll dieser kleine Auswahlband nicht nur das Lesevergnügen beflügeln, sondern mit Schopenhauer verführen zu einem philosophischen Leben und zu gelebter Philosophie überhaupt.
Bruno Kern
1Ein sehr plattes populäres Missverständnis hat Schopenhauer die Leugnung der Außenwelt, also einer objektiven Realität außerhalb unseres Bewusstseins, unterstellt. Diese Frage hat Schopenhauer allerdings als völlig irrelevant von sich gewiesen.
2Verwiesen sei an dieser Stelle an den ersten Auswahlband: Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Wiesbaden 42012.
ÜBER PHILOSOPHIE UND IHRE METHODE
§ 1 Der Grund und Boden, auf dem alle unsere Erkenntnisse und Wissenschaften ruhen, ist das Unerklärliche. Auf dieses führt daher jede Erklärung, mittels mehr oder weniger Mittelglieder, zurück; wie auf dem Meer das Senkblei den Grund bald in größerer, bald in geringerer Tiefe findet, ihn jedoch überall zuletzt erreichen muss. Dieses Unerklärliche fällt der Metaphysik anheim.
§ 3 Zum Philosophieren sind die zwei ersten Erfordernisse diese: erstlich, dass man den Mut habe, keine Frage auf dem Herzen zu behalten; und zweitens, dass man alles das, was sich von selbst versteht, sich zum deutlichsten Bewusstsein bringe, um es als Problem aufzufassen. Endlich auch muss, um eigentlich zu philosophieren, der Geist wahrhaftig müßig sein: Er darf keine Zwecke verfolgen und also nicht vom Willen gelenkt werden, sondern muss sich ungeteilt der Belehrung hingeben, welche die anschauliche Welt und das eigene Bewusstsein ihm erteilen. –
Philosophieprofessoren hingegen sind auf ihren persönlichen Nutzen und Vorteil und was dahin führt bedacht: Da liegt ihr Ernst. Darum sehen sie so viele deutliche Dinge gar nicht, ja kommen nicht ein einziges Mal, auch nur über die Probleme der Philosophie, zur Besinnung.
§ 4 Der Dichter bringt Bilder des Lebens, menschliche Charaktere und Situationen vor die Fantasie, setzt das alles in Bewegung und überlässt nun jedem, bei diesen Bildern so weit zu denken, wie seine Geisteskraft reicht. Deshalb kann er Menschen von den verschiedensten Fähigkeiten, ja Toren und Weisen zugleich genügen. Der Philosoph hingegen bringt nicht in jener Weise das Leben selbst, sondern die fertigen, von ihm daraus abstrahierten Gedanken, und fordert nun, dass sein Leser ebenso und ebenso weit denke, wie er selbst. Der Dichter ist demnach dem zu vergleichen, der die Blumen, der Philosoph dem, der die Quintessenz derselben bringt. […]
§ 5 Der philosophische Schriftsteller ist der Führer und sein Leser der Wanderer. Sollen sie zusammen ankommen, so müssen sie, vor allen Dingen, zusammen ausgehen: Das heißt, der Autor muss seinen Leser aufnehmen auf einem Standpunkt, den sie sicherlich gemein haben: Dies aber kann kein anderer sein als der des uns allen gemeinsamen empirischen Bewusstseins. Hier also fasse er ihn fest an der Hand und sehe nun, wie hoch über