Die Duchesse überlegte, wie lange sie es noch ertragen konnte, weiter zuzuhören. Eine Unterbrechung rettete sie.
Neben dem Direktor stand ganz plötzlich ein Mädchen, das ihn flehend von der Seite anschaute.
„Senhor, gestatten Sie, daß ich den Damen, die hier wohnen, meine Handarbeiten zeige“, bat es mit leiser Stimme.
Er machte eine abwehrende Handbewegung, doch das Mädchen ließ sich nicht vertreiben.
„Ich bitte Sie, Senhor, helfen Sie mir. Sie haben es doch auch schon früher getan. Ich bin dem Verhungern nahe. Außerdem habe ich kein Geld, um Material für weitere Handarbeiten zu kaufen.“
Der Direktor war kein hartherziger Mann. Aus einem Impuls heraus wandte er sich an die Herzogin.
„Madame, ich rate Ihnen, sich die wunderbaren Handarbeiten anzuschauen, die diese junge Frau von Zeit zu Zeit hier anbietet. Seien Sie versichert, daß sie von höchster Qualität sind. Sie werden in der Stadt nicht leicht etwas Ähnliches bekommen.“
Die Duchesse, die völlig mit ihren Gedanken beschäftigt war, wollte schon ablehnen. Bei näherer Betrachtung konnte sie jedoch nicht umhin zu bemerken, daß dieses Mädchen außergewöhnlich schön war.
So schön wie sie selbst vor dreißig Jahren, als Juan sie zum ersten Mal gesehen hatte. Wie durch einen unerklärlichen Zauber glaubte sie plötzlich ihr eigenes jüngeres Gesicht zu sehen.
Das Mädchen unterschied sich in ihrem Äußeren beträchtlich von den üblichen Portugiesinnen. Es hatte dunkle Haare wie die Madonnen auf den Bildern in den Kathedralen, dazu merkwürdigerweise strahlendblaue Augen.
Die Duchesse glaubte zuerst, sich getäuscht zu haben. Dann stellte sie fest, daß die Augen unter den dichten, dunklen Wimpern von einem tiefen und leuchtenden Blau waren, das sie an das Mittelmeer denken ließ.
Das Mädchen hatte ein zartes, herzförmiges Gesicht mit einer kleinen, geraden Nase und einem hübsch geschwungenen Mund. Es hatte zweifellos nicht übertrieben, als es vom Verhungern gesprochen hatte. Die Konturen des Kinns wirkten unnatürlich scharf. Die Knöchel an den Handgelenken traten hervor. Die Finger, in denen sie das Päckchen mit der Handarbeit hielt, zitterten.
„Zeigen Sie mir, was Sie anzubieten haben“, sagte die Duchesse.
Das Mädchen kniete sich auf den Boden zu Füßen der Herzogin und faltete ein Stück graues Baumwolltuch auseinander. Darunter kam ein Nachthemd aus Seide mit ekrufarbenen Spitzenapplikationen zum Vorschein.
Ein Blick genügte, und die Duchesse erkannte, daß es sich in der Tat um eine außergewöhnliche Arbeit handelte.
So außergewöhnlich, daß sie in scharfem Ton fragte: „Haben Sie das ganz allein gemacht?“
„Ich wurde im Kloster erzogen, Donna“, erwiderte das Mädchen. „Die Nonnen sind für die Feinheit ihrer Handarbeiten bekannt.“
„Ich kaufe Ihnen das Nachthemd ab, wie auch alle anderen Teile, die Sie angefertigt haben“, sagte die Duchesse.
Das Mädchen stieß einen leisen Schrei aus. Die blauen Augen füllten sich mit Tränen.
„Ich danke Ihnen ... Sie haben mich gerettet. Als ich herkam, wußte ich, daß dies meine letzte Chance sein würde, um weiterzuleben.“
„Sie sind noch so jung. Wie können Sie da ans Sterben denken?“ fragte die Duchesse.
Dabei erinnerte sie sich noch gut an die Qualen, die sie selbst erlitten hatte, als sie entschlossen gewesen war, in den Tod zu gehen. Auch sie war, wenn auch auf ganz andere Weise, im letzten Augenblick gerettet worden.
„Das Leben ist etwas sehr Kostbares“, sagte sie laut, obwohl sie sich bei diesen Worten ziemlich scheinheilig vorkam. Ihr war es gar nicht kostbar erschienen, als sie im Alter dieses Kindes gewesen war. Sie hätte den Tod einem Leben ohne Juan und ohne Liebe vorgezogen.
„Ich habe noch zwei fertige Wäschestücke zu Hause“, erklärte das Mädchen. „Darf ich die Sachen holen und Ihnen zeigen, Donna?“
Die Duchesse lächelte über ihren Eifer. Wie einfach war es doch, großzügig zu sein, wenn man es sich leisten konnte.
„Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche“, sagte der Hoteldirektor. „Ihre Kutsche steht vor der Tür.“
Die Duchesse erhob sich aus ihrem Sessel.
„Sorgen Sie dafür, daß die Sachen, die diese junge Frau zu verkaufen hat, in meine Suite gebracht werden“, befahl sie. „Und bezahlen Sie, was sie dafür verlangt.“
Nach kurzem Nachdenken änderte sie ihre Meinung.
„Kommen Sie, ich werde Sie nach Hause bringen“, wandte sie sich an das Mädchen. „Dort können Sie mir zeigen, was Sie sonst noch gearbeitet haben.“
„Sie sind sehr großzügig, Madame“, mischte sich der Hoteldirektor ein. „Ich versichere Ihnen, daß diese junge Frau absolut vertrauenswürdig ist.“
„Das habe ich mir schon gedacht“, erwiderte die Duchesse.
Während sie durch die Halle ging, beeilte sich der Direktor, vor ihr die Tür zu erreichen, um diese zu halten.
Das Mädchen folgte ein wenig zögernd. Es überlegte, ob die Dame das Angebot ernst gemeint hatte, sie in der Kutsche mitfahren zu lassen, oder ob sie sie mißverstanden hatte.
Vor dem Eingang wartete ein offener Wagen. Die beiden Pferde, die das Gespann bildeten, wirkten wohlgenährt. Auf dem Bock saßen der Kutscher und ein Reitknecht.
Ein Portier in der Livree des Grand Hotels öffnete die Tür und half der Duchesse beim Einsteigen. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie bequem saß, legte er ihr eine leichte Decke über die Knie.
Da das Mädchen zögernd stehen blieb, forderte der Hoteldirektor es in scharfem Ton auf, ebenfalls einzusteigen. Es gehorchte, nachdem es der Herzogin einen ängstlichen Blick zugeworfen hatte.
„Beabsichtigen Sie wirklich, diese junge Frau nach Hause zu bringen, Madame?“ erkundigte sich der Direktor mit besorgter Miene.
Er befürchtete offenbar, die Fahrt würde in einen sehr unschönen Teil der Stadt führen.
„Ja, ich habe diese Absicht“, bestätigte sie. „Wo leben Sie, mein Kind?“ wandte sie sich an das Mädchen.
Die Adresse, die es nannte, befand sich in einer armen, aber respektablen Gegend in Meeresnähe. Der Direktor wiederholte sie für den Portier, der den Kutscher informierte.
Die Kutsche setzte sich in Bewegung. Da die Herzogin kein Wort äußerte, brach das Mädchen nach einiger Zeit das Schweigen. Es benutzte die Anrede, die es von dem Hoteldirektor gehört hatte.
„Sie sind sehr liebenswürdig, Madame. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“
„Wie heißen Sie?“
„Felicita Galvao, Madame.“
„Leben Sie bei Ihren Eltern?“
Eine kleine Pause entstand. Schließlich antwortete das Mädchen mit einer Stimme, der man den Kummer anmerkte.
„Mein Vater ist im vergangenen Jahr gestorben, meine Mutter vor zwei Monaten.“
„Wo leben Sie dann?“
„In der Pension, in der meine Mutter und ich die letzten sechs Monate ihres Lebens gewohnt haben. Die Wirtin hat viel Geduld bewiesen. Ich schulde ihr schon für zwei Monate die Miete und Geld für die Mahlzeiten.“
Als keine Reaktion erfolgte, fuhr das Mädchen fort: „Die Frau ist sehr arm. Wenn Sie mir heute nicht geholfen hätten,