Zwei Taschentücher
1. Kapitel
Zerstörtes Glück
Assessor Harst beendete seinen Vortrag, den er seinem Vorgesetzten soeben über die Mordsache Luckner-Birt gehalten hatte, mit den Worten: »Ich glaube, dieses Beweismaterial genügt zur Erhebung der Anklage gegen diesen ebenso raffinierten wie verstockten Menschen, Herr Geheimrat.«
Der Erste Staatsanwalt streckte ihm die Hand hin und sagte herzlich: »Lieber Harst, – es genügt vollauf! Und – es ist wieder einmal Ihr alleiniges Werk, all diese feinen Fäden zu einem Netz vereinigt zu haben, aus dem es für den Täter kein Entrinnen mehr gibt. Ich danke Ihnen. Nur selten findet man unter uns Juristen einen so scharfsinnigen Kopf wie Sie. Ich habe den Herrn Minister bereits auf Sie aufmerksam gemacht, und Ihre Ernennung zum Staatsanwalt dürfte noch vor Ihrer Hochzeit erfolgen, verehrter Kollege. Diese ist doch für nächsten Mittwoch festgesetzt, wenn ich mich recht erinnere. – Auf Wiedersehen! Und – machen Sie für heute Schluß mit der Arbeit! Dieses prachtvolle Maiwetter lädt geradezu ein zu einem Spaziergang – zumal wenn man verlobt ist!«
Noch ein Händedruck, und Harald Harst kehrte in sein Dienstzimmer zurück, wo er das Aktenstück »Luckner-Birt« wegschloß und sich dann zum Ausgehen fertig machte. Er tat dies mit der ihm eigenen Sorgfalt, die er seinem äußeren Menschen stets schenkte. Es war ihm Bedürfnis, sich tadellos zu kleiden und die Gewißheit zu haben, daß jede Kleinigkeit an ihm selbst vor dem kritischsten Blick bestehen konnte. Er besaß dabei einen ausgesprochen vornehmen Geschmack, und nichts an seiner Erscheinung verriet, daß er aus einer sehr einfachen, wenn auch reichen Familie stammte. Seine schlanke, mittelgroße Gestalt und das frische, magere Gesicht mit dem kurz gestutzten blonden Bärtchen ließen ihn weit jünger erscheinen, als er es in Wirklichkeit war. Sein gemessenes Wesen, die Ruhe seiner Bewegungen und seine langsame, überlegte Art zu sprechen, seine unerschütterliche Gelassenheit und der kühle, scheinbar all und jedem gegenüber gleichgültige Blick der grauen, dunkelbewimperten Augen waren das Ergebnis strengster Selbstzucht. Sein Gesicht mit den vorspringenden Backenknochen, der allzu kräftigen Kinnpartie, der hohen, eckigen Stirn und der messerscharfen Hakennase durfte auf Schönheit keinen Anspruch erheben. Aber es war eines von denen, die Eindruck machen, auffallen und dem Menschenkenner sofort überlegene Geistesgaben verraten. – Das war Harald Harst, den seine Kollegen oft den großen Schweiger nannten, da er wenig mitteilsam, ja sogar eine verschlossene, insichgekehrte Natur war.
Als er nun in den warmen Mittagssonnenschein hinaustrat, der den Platz vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit in blendende Helle tauchte, war es genau 12 Uhr mittags. Um halb eins hatte er sich mit Marga vor dem Kaufhaus des Westens verabredet. Sie wollten dort gemeinsam einige Besorgungen erledigen. Er hatte also noch genügend Zeit, ein Stück zu Fuß durch den Tiergarten zu gehen. Inmitten der frischgrünen Lenzespracht schüttelte er gewaltsam alle Gedanken an dienstliche Angelegenheiten von sich ab, zwang sich, nur mit dem geliebten Wesen sich zu beschäftigen, das nun in kurzem sein Weib werden sollte.
Marga Milden war das einzige Kind des Senatspräsidenten Robert Milden und seiner Frau, einer geborenen Gräfin Blinkfeld. Trotz ihrer erst zwanzig Jahre war sie ein völlig ausgereifter Charakter mit ernsten Lebensanschauungen. Jedenfalls hatten sich, als sie den Assessor Harst vor einem Vierteljahr kennen und sehr bald lieben lernte, nicht gerade die Gegensätze wie so oft angezogen, denn Marga und Harald waren in der Hauptsache verwandte Naturen. Als Brautpaar wußten sie in Gegenwart anderer stets zu verbergen, wie leidenschaftlich sie sich zugetan waren. Nur im trauten Alleinsein enthüllten sie ohne Scheu ihre heißen Herzen und schwärmten in schlecht verhehlter Sehnsucht von der köstlichen Zukunft, wo sie sich dann restlos angehören durften. –
Auf der Tauentzienstraße vor dem riesigen Sandsteinbau des Kaufhauses des Westens wogte wie immer um die Mittagstunde ein doppelter Menschenstrom auf der Lasterseite auf und ab. Harst schlenderte vor den großen Schaufenstern hin und her und machte seine Studien an den Menschen, die gleich ihm die Auslagen bewunderten. Er verstand sich darauf, aus winzigen Kleinigkeiten treffsichere Schlüsse zu ziehen, und es war eine fast krankhafte Angewohnheit von ihm, selbst im Straßentreiben der Millionenstadt auf alles zu achten, was ihn vielleicht auf die Spur irgend einer entweder schon vollendeten oder erst geplanten Gesetzesübertretung führen konnte. Daher wurde er auch Taschendieben besonders gefährlich. Er durfte sich rühmen, bereits mehr als ein Dutzend dieser Gauner hinter Schloß und Riegel gebracht zu haben.
Jetzt stutzte er plötzlich.