»Er sorgt da im Stall für mich und ich hier für ihn. Man muss wirklich schon an den Winter denken, und was seinen Verbrauch hiervon betrifft, Fritz, so ist’s damit noch gradeso wie in eurer Jungenszeit.«
»Er schnauft tüchtig bei seinem Sägebock«, sagte der Wirkliche Geheimrat nach dem Stall hin horchend.
»Ja, so dick und unbeholfen ist er nicht immer gewesen; aber er ist’s früh geworden. Sie meinten, das hinge mit seinem Zustand zusammen. Nachdem wir aus der Schule gewesen sind – ihn haben sie mit hineingehen und hinsitzen lassen mit den anderen, seine Eltern und der Herr Rektor, weil er zu Hause im Wege gewesen ist –, bin ich eine Weile mehr von ihm abgekommen. Ich war eben auch ein frisches, junges Ding und lachte gern und dumm und ließ mich nicht gern um was aufziehen von anderen. Ich will es gestehen, ich ging gern aus dem Wege und sah nicht hin, wenn sie ihren Schabernack mit ihm trieben. Ich schämte mich, mich aus Mitleid und Ärgernis lächerlich machen und zum Weinen bringen zu lassen. Heute nun schäme ich mich noch; aber damals konnte ich nicht anders: die Welt ist einmal so, und ich bin meinerzeit nicht besser als die Welt gewesen und auch mal ein junges Mädchen.«
Es war, als liefe so etwas wie ein rosiger Schein über das Altjungferngesicht neben dem Wirklichen Geheimrat, und er brauchte nicht zu fragen:
»Woher der Abglanz?«
Es klang ihr wie Tanz- und Schützenhofsmusik, es glänzte ihr wie Pfingstmaiengrün aus dem neunzehnten Lebensjahr, und – sie legte einen Augenblick ihr Strickzeug auf den Tisch – sah, nein, horchte nach dem Holzstall, wo die Säge Ludchen Bocks noch immer im Gange war, nahm es wieder auf, sah mit jungjüngferlichem Augenniederschlag auf ihre Nadeln und lächelte:
»Jaja, Fritz, alte Bekannte hier aus der Zeit sagen, ich sei auch mal ein hübsches Mädchen gewesen.«
Ob der gelehrte Mann, der Mann aus den Wonneburgen der Walchen, ihr wohl hätte sagen dürfen, wie schön sie noch sei und was an der Welt schön sei?
Er machte den Versuch nicht einmal durch eine Handbewegung, und sie erzählte ihm weiter von Ludchen Bock und sich.
»Zu Hause hatten sie ihn jetzt mit an die tägliche Arbeit genommen; aber da ging erst das rechte Leiden an. Dass er beim Rektor Schuster nicht weiterkam, sondern ein Kind blieb, begriffen sie; dass er aber auch ein Kind auf dem Felde, im Stalle, in jedem Handwerk – in all unserer Hantierung hier bleiben sollte, das konnten sie nicht einsehen. Und von da an und daraus ist sein weinerlicher Ton angegangen, den nun seit so langen, langen Jahren eigentlich keiner ertragen kann als wie ich, die ich mich nach Gottes Willen nach und nach in der richtigen Weise dran gewöhnen lernte – konnte.«…
Gewöhnen konnte. Konnte!
Welch ein Lehrer wäre der berühmte Gelehrte gewesen, wenn er es seinen Schülern hätte beibringen können, was alles von dem, was die Welt zusammenhält, in diesem Verbum neutrum irregulare aus Minchen Ahrens’ Munde lag! Aber wer konnte je in einem Lehr- und Hörsaale den Leuten auseinandersetzen, wie Mutter Natur bei der Arbeit ihr Kind weinen hört und singend die Wiege mit dem Fuße tritt? –
»Ja, ja, ja, Fritz, es war eine lustige Zeit, die Zeit, wo unsereins, ich meine uns Mädchen, nicht aus dem Kichern und Lachen herauskommen kann! Des Abends auf der Bank vor der Tür und am Brunnen und Sonntags sogar in der Kirche und nach der Kirche erst recht, und alles von Rektor Schusters Jungens, was eine sonsten bis zum Heulen und Brüllen erboset, geärgert und an den Zöpfen gezogen und allen Schabernack angetan hat, nun auf einmal ganz anders. Ein paar Flegel – natürlich nur gröber und unverschämter; aber die Besseren und Feinern – und, lieber Gott, doch die meisten! –, die Besseren nicht bloß anständig, sondern so manierlich und blöde, dass man da zwar hinter ihrem Rücken erst recht mit dem Kichern und Lachen herausplatzt, aber doch wieder bei Nacht so was wie Gewissensbisse hat und sich über sich selber ärgert und meint, dass man doch ein bisschen höflicher und nicht so grob hätte sein können.«
Der Schein auf dem Greisengesicht war immer rosiger geworden. Nun sah sie verschämt, verlegen und doch wirklich schalkhaft den Freund von der Seite an:
»Herr Geheimer Rat – dich meine ich, Fritz Feyerabend, du musst es dir ganz allein auf deine Rechnung schreiben, dass ich so dumm schwatze. Wir sind doch eigentlich heute Morgen vom Maienbrunnen her wie die Kinder aus ihm herausgekommen und sitzen hier so zusammen! So was wie Ludchen Bock und mir kann doch noch keinem anderen auf Erden durch einen Besuch passiert sein, und ich kann ja auch immer noch nicht recht daran glauben.«
»Ich glaube an dich von ganzem Herzen, Minchen! Versuche es also auch weiter mit mir: glaube an den armen Schatten wie ich an dein junges, blühendes Leben. Das Wetter ist so schön, und ich möchte wirklich noch mal dabeisein – beim Kinderspiel der Erde!«
Plötzlich legte sie nun ihre Hand auf die des Freundes.
»Weißt du, Fritz, wie ich es machen will? Du hast mir so gut und ruhig von deiner lieben jungen Frau und deinem armen kleinen Kindchen erzählt: nun will ich mir denken, ich säße auf eurem Kirchhofe, wo sie liegen, bei ihren lieben Gräbern und will da, weil du es willst und noch dazu nach hierher jetzt gekommen sein musst, weiter mir vom Herzen abschütteln, was drauf liegt seit – seit – ja, wie lange ist’s eigentlich her?«
Der Weltwanderer und Gast von Altershausen sah verwundert ob der Frage auf; aber sie – die Freundin – hatte wohl Recht dazu an diesem Orte, in diesem Hausgarten, mit diesen Zäunen, Dächern und allem übrigen rundum – in diesem verzauberten Winkel, wo sie der Welt Schönheit zwei Menschenalter verschlafen hatte wie Dornröschen in ihrem dornenüberwachsenen Königsschloss! –
Die Säge Ludchen Bocks hatte schon seit einer Weile sich nicht hören lassen, und nun geschah etwas recht Absonderliches.
Um den Pfosten der Stalltür herum erschien das geschwollene, bartlose Jungens-Altgesicht des Freundes, und Ludchen Bock winkte dem Wirklichen Geheimen Rat, winkte vergnüglichst-vertraulich grinsend:
»Komm, Fritze, ich will dir mal was zeigen!«
Das war der Ton von vor sechzig Jahren, und Minchen Ahrens sah fast erschrocken auf und hin nach ihrem Schützling. Sie stotterte es fast hervor:
»Nun, was ist’s denn, Ludchen?«
»Er hat meine Kaninchen noch nicht gesehen. Ich schenke ihm wieder mal eins mit roten