Die Töne folgten dumpf und ungestüm aufeinander wie Bienengesumm. Allmählich wurden sie heller und lauter und flohen in die Nacht hinaus, zu den wimmernden Wogen und den rauschenden hohen Bäumen auf der Kuppe der Akropolis.
»Hör auf!« rief Salambo.
»Was hast du, Herrin? Der weiche Wind, der weiter weht, Wolken, die schon wieder weg sind, alles bewegt und erregt dich jetzt.«
»Ich weiß es nicht!«
»Du machst dich matt durch zu viel Beten.«
»O Taanach, ich möchte in meinem Gebete zerfließen wie der Duft einer Blume im Wein.«
»Vielleicht ist der Weihrauch daran schuld?«
»Nein!« sagte Salambo. »In den Wohlgerüchen wohnen der Götter Seelen.«
Da sprach die Sklavin von Hamilkar. Man glaube, er sei nach dem Lande des Bernsteins gefahren, über die Säulen des Melkarth hinaus. »Und wenn er nicht wiederkommt,« flüsterte sie, »dann mußt du dir, wie es sein Wille war, unter den Söhnen der Alten einen Gatten wählen. In den Armen eines Mannes wird dann dein Kummer vergehen.«
»Wieso?«
Die Männer, die Salambo bisher gesehen, flößten ihr allesamt Furcht ein mit ihrem wilden Lachen und ihren plumpen Gliedern.
»Taanach, bisweilen steigt aus der Tiefe meines Wesens heißer Hauch auf, schwüler als die Dämpfe eines Vulkans. Stimmen rufen mich. In meiner Brust rollt und kreist eine Feuerkugel. Ich ringe nach Atem und vermeine zu sterben. Dann aber durchströmen süße Schauer meinen Leib vom Kopfe bis zu den Füßen. Eine Liebkosung ist's, die mich umfängt. Ich fühle mich bedrückt, als ob ein Gott sich über mich legte. Ach, ich möchte mich verlieren im Nebel der Nächte, in der Flut der Quellen, im Safte der Bäume! Ich möchte meinen Körper verlassen. Möchte nur noch ein huschender Hauch sein, ein schimmernder Schein, und aufschweben zu dir, o Mutter!«
Sie hob die Arme, so hoch sie konnte, und bog sich zurück. In ihrem langen Gewande sah sie licht und leicht aus wie die Mondsichel selbst. Dann sank sie stöhnend auf das elfenbeinerne Bett. Taanach legte ihr eine Bernsteinkette mit Delphinzähnen um den Hals, ein Amulett gegen die Angst.
Mit fast erloschener Stimme gebot Salambo:
»Hol mir Schahabarim!«
Ihr Vater hatte weder zugegeben, daß sie in den Orden der Tanitpriesterinnen eintrat, noch daß sie mit der volkstümlichen Auffassung des Kults dieser Göttin bekannt wurde. Er sparte sie für irgendein Bündnis auf, das seine politischen Pläne fördern sollte. Darum lebte Salambo einsam im Schlosse. Ihre Mutter war schon lange tot.
In Klösterlichkeit, unter Fasten und frommen Zeremonien war sie aufgewachsen, immer umgeben von erlesenen und ernsten Dingen. Ihr Körper war von Parfümerien durchtränkt, ihre Seele erfüllt von Gebeten. Nie hatte sie Wein getrunken, nie Fleisch gegessen, nie ein unheiliges Tier berührt, nie das Haus eines Toten betreten.
Sie hatte noch keine unzüchtigen Götterbilder gesehen. Jeder Gott kann sich in verschiedener Gestalt offenbaren, und voneinander ganz verschiedene Kulte haben oft denselben Grundgedanken. Salambo betete die Göttin in ihrer Erscheinung als Himmelsgestirn an, und ihr jungfräulicher Leib stand in seinem Banne. Wenn der Mond abnahm, fühlte sie sich schwach. Den ganzen Tag über matt und müde, lebte sie immer erst abends auf. Während einer Mondfinsternis wäre sie beinahe gestorben.
Die eifersüchtige Göttin rächte sich für die ihrem Dienste entzogene Jungfrauschaft und suchte Salambo mit Anfechtungen heim, die um so stärker waren, je wesenloser sie blieben. Sie wurzelten im Glauben und wurden durch ihn genährt. Unaufhörlich ward Hamilkars Tochter von Tanit beunruhigt. Sie kannte der Göttin Abenteuer, ihre Wanderfahrten und alle ihre Namen, die ihr fortwährend über die Lippen kamen, ohne daß sie damit deutliche Vorstellungen verband. Um in die Tiefe dieses Kults einzudringen, begehrte sie im Allerheiligsten des Tempels das altertümliche Götterbild zu schauen, das den prächtigen Mantel trug, an dem Karthagos Geschick hing. Der Gottesbegriff wurde von seiner Verkörperung kaum getrennt. Wer ein Götterbild berührte oder auch nur ansah, raubte dem Gott einen Teil seines Wesens und gewann in gewisser Weise sogar Macht über ihn.
Salambo wandte sich um. Sie hatte das Klingen der goldenen Glöckchen vernommen, die Schahabarim am Saume seines Kleides trug. Er kam die Treppe herauf. Beim Betreten der Terrasse blieb er stehen und kreuzte die Arme. Seine tiefliegenden Augen glommen wie Lampen in einer Gruft. Sein linnenes Gewand schlotterte um einen schlanken mageren Körper. Es war an den Säumen abwechselnd mit Schellen und Smaragdknöpfen besetzt. Schahabarim hatte schwächliche Glieder, einen Kegelkopf und ein spitzes Kinn. Wer seine Hand anfaßte, empfand Kälte, und sein gelbes tiefgefurchtes Antlitz sah aus, wie von Sehnsucht und ewigem Kummer verzerrt.
Das war der Hohepriester der Tanit, Salambos Erzieher.
»Sag, was willst du?« sprach er sie an.
»Ich hoffte ... Hattest du mir nicht versprochen?« Sie stockte und geriet in Verwirrung. Plötzlich aber fuhr sie fort: »Warum mißachtest du mich? Hab ich irgendeine fromme Pflicht versäumt? Du bist mein Lehrmeister. Du hast mir gesagt, niemand wüßte so viel von der Göttin wie ich. Und doch gibt es noch Dinge, die du mir verheimlichst. Hab ich recht, Vater?«
Schahabarim gedachte der Befehle Hamilkars und erwiderte:
»Nein, ich habe dich nichts weiter zu lehren.«
Da sagte sie:
»Etwas Geheimnisvolles treibt mich zu meiner Verehrung. Ich bin die Stufen Eschmuns hinaufgestiegen, des Gottes der Planeten und der denkenden Wesen. Ich habe unter dem goldenen Ölbaume Melkarths geschlafen, des Schirmherrn der tyrischen Kolonien. Ich bin durch die Pforte des Baal Khamon geschritten, des Lichtspenders und Befruchters. Ich habe den Erdgeistern geopfert, den Göttern der Wälder, der Winde, der Ströme und der Berge. Aber alle sind sie zu fern, zu weit, zu fremd. Verstehst du mich? Sie dagegen ist mit mir verwoben, sie erfüllt meine Seele, ich erbebe unter inneren Bewegungen. Mir ist's, als wolle sie sich aus mir herauswinden, um sich von mir loszumachen. Ich vermeine ihre Stimme zu hören, ihr Angesicht zu schauen. Blitze blenden mich ... und dann sinke ich zurück in die Finsternis.«
Schahabarim schwieg. Salambo sah ihn mit flehentlich bittenden Blicken an. Endlich gab er ihr einen Wink, die Sklavin wegzuschicken, die nicht von kanaanitischer Rasse war.
Taanach verschwand. Schahabarim streckte seine Arme gen Himmel und hub an:
»Ehe es noch Götter gab, herrschte Finsternis, und es wehte ein Hauch, schwül und trüb wie das Bewußtsein der Menschen im Traume. Der Hauch verdichtete sich und erzeugte Gewölk und die Sehnsucht. Und aus der Sehnsucht und den Wolken entsprang der Urstoff. Das war ein tiefer, schwarzer, eisiger Sumpf. In ihm keimten fühllose Ungeheuer, zusammenhangslose Elemente der werdenden Wesen, wie sie auf den Wänden der Tempel abgebildet sind.
»Dann verdichtete sich der Urstoff. Er ward zum Ei. Das zerbarst. Die eine Hälfte wurde zur Erde, die andere zum Himmelsgewölbe. Sonne, Mond, Winde und Wolken erschienen, und unter Donner und Blitz die denkenden Wesen. Eschmun kam in der Sternenwelt auf, Khamon erstrahlte in der Sonne, Melkarth trieb ihn mit starkem Arm bis hinter Gades zurück. Die Erdgeister stiegen hinunter in die Vulkane, und Rabbetna neigte sich gleich einer Amme über die Welt, und spendete ihr Licht wie einen Milchstrom, und deckte sie mit der Nacht zu wie mit einem Mantel ...«
»Und dann?« fragte Salambo.
Er hatte ihr das Geheimnis der Schöpfung erzählt, um sie durch weite Ausblicke abzulenken. Aber an seinen letzten Worten entzündete sich das Begehren der Jungfrau von neuem, und Schahabarim fuhr in halbem Nachgeben fort:
»Sie weckt und lenkt die Liebe im Menschen ...«
»Die Liebe im Menschen ...« wiederholte Salambo versonnen.
Der Hohepriester redete weiter:
»Sie ist Karthagos