»Warum bist du erwacht?« sagte Raphael; »ich war so glücklich, dich schlafend zu sehen, daß ich weinte.«
»Auch ich habe heute nacht geweint«, erwiderte sie, »als ich deinen Schlummer bewachte, aber nicht vor Freude. Höre, mein Raphael, höre mich an! Wenn du schläfst, ist dein Atem nicht frei, es ist etwas Rasselndes in deiner Brust, das mir Angst gemacht hat. Während du schläfst, hast du so einen kurzen, trockenen Husten, der aufs Haar dem meines Vaters gleicht, der an der Schwindsucht dahinsiecht. An dem Geräusch deiner Lungen habe ich einige Symptome dieser Krankheit erkannt. Und du hattest Fieber, ich weiß es gewiß, deine Hand war feucht und glühend. Geliebter, du bist jung«, fügte sie hinzu und schauerte zusammen, »du könntest noch geheilt werden, wenn zum Unglück … Aber nein«, rief sie froh, »es ist kein Unglück, die Krankheit ist ansteckend, sagten die Ärzte.« Sie umschlang Raphael mit beiden Armen und sog seinen Atem mit einem Kuß ein, in den die ganze Seele strömte. »Ich will keine alte Frau werden. Wir wollen zusammen jung sterben und mit Blumen in den Händen gen Himmel pilgern.«
»Solche Pläne macht man leicht, wenn man gesund ist«, erwiderte Raphael und strich mit beiden Händen durch Paulines Haar.
Aber plötzlich bekam er einen furchtbaren Hustenanfall. Es war ein schwerer, hohler Husten, der aus einer Gruft zu schallen scheint, der Blässe auf die Stirn des Kranken treibt, ihn am ganzen Leibe zitternd und in Schweiß gebadet zurückläßt, seine Nerven aufwühlt, den Brustkorb erschüttert, sein Rückenmark überanstrengt und bleierne Schwere in seinen Adern verbreitet hat. Niedergeschlagen und bleich ließ sich Raphael auf sein Bett sinken, er war erschöpft wie ein Mensch, der seine ganze Kraft in einer letzten Anstrengung verbraucht hat. Pauline sah ihn mit starren, angstvoll geweiteten Augen an. Sie blieb regungslos, blaß und stumm.
»Wir dürfen keine Torheiten mehr anstellen, Liebster«, sagte sie schließlich, um Raphael die furchtbaren Vorahnungen, die sie befielen, zu verbergen.
Sie schlug die Hände vors Gesicht. Das gräßliche Gerippe des Todes stand vor ihr. Raphaels Antlitz war fahl und hohl wie ein Schädel, der für die Studien eines Gelehrten dem Schlund des Kirchhofs entrissen worden ist. Pauline fiel Valentins Ausruf vom Vorabend ein, und sie sprach zu sich selbst: »Ja, es gibt Abgründe, die die Liebe nicht überwinden kann, aber sie muß in ihnen versinken.«
Ein paar Tage nach dieser trostlosen Szene saß Raphael an einem Märzmorgen in seinem Lehnstuhl. Vier Ärzte standen um ihn herum, die ihn ans Fenster seines Schlafzimmers hatten rücken lassen, wo es hell war, und ihm nacheinander den Puls befühlten, ihn abklopften und mit scheinbarem Interesse befragten. Der Kranke suchte aus ihren Gesten und den kleinsten Falten auf ihrer Stirn ihre Gedanken zu erraten. Diese Konsultation war seine letzte Hoffnung. Diese höchsten Richter sollten sein Urteil sprechen: Leben oder Tod. Um der menschlichen Wissenschaft das letzte Wort zu entreißen, hatte Valentin die Orakel der modernen Medizin berufen. Dank seinem Vermögen und seinem Namen befanden sich die drei Systeme, zwischen denen sich das menschliche Wissen bewegt, hier vor ihm. Drei von diesen Doktoren trugen die ganze ärztliche Philosophie mit sich herum und repräsentierten den Kampf, den der Spiritualismus, die Analyse und ein gewisser spöttischer Eklektizismus untereinander führen. Der vierte Arzt war Horace Bianchon, ein Mann der Zukunft und reicher Kenntnisse, vielleicht der ausgezeichnetste unter den neuen Ärzten, der kluge und bescheidene Vertreter der forschenden Jugend, die sich anschickt, die Erbschaft der seit 50 Jahren von der École de Paris angehäuften Schätze anzutreten, und die vielleicht das Monument errichten wird, zu dem die früheren Jahrhunderte soviel verschiedenes Material zusammengetragen haben. Er war ein Freund des Marquis und Rastignac und hatte vor mehreren Tagen seine Behandlung übernommen. Jetzt half er ihm, die Fragen der drei Professoren zu beantworten, die er zuweilen mit einiger Dringlichkeit auf die Symptome hinwies, die ihm eine Lungenschwindsucht anzuzeigen schienen.
Sie haben ohne Zweifel sehr ausschweifend gelebt, haben, wie man so sagt, ein tolles Leben geführt und haben sich auch großen geistigen Anstrengungen gewidmet?« fragte einer der drei berühmten Doktoren, dessen eckiger Kopf, wuchtige Gestalt und energisches Auftreten auf eine geistige Überlegenheit über seine beiden Gegner schließen ließ.
»Ich wollte mich durch Ausschweifung zugrunde richten, nachdem ich drei Jahre lang an einem großen Werk gearbeitet habe, mit dem Sie sich vielleicht einmal beschäftigen werden«, antwortete ihm Raphael. Der große Arzt nickte mit dem Kopf als Zeichen seiner Zufriedenheit, als hätte er sich selbst gesagt: »Ich wußte es!«
Dieser Arzt war der erlauchte Brisset, das Haupt der Organizisten, der Nachfolger der Cabanis und Bichats, ein Vertreter der positivistischen und materialistischen Schule, die im Menschen ein endliches Wesen sieht, das lediglich den Gesetzen seiner eigenen Organisation unterworfen ist und dessen normaler Zustand oder schädliche Anomalien sich aus unverkennbaren Ursachen erklären lassen.
Nach dieser Antwort sah Brisset schweigend auf einen untersetzten Mann, dessen hochrotes Gesicht und glühendes Auge einem alten Satyr zu gehören schienen. Er lehnte mit dem Rücken an der Ecke der Fensternische und betrachtete Raphael aufmerksam, ohne ein Wort zu sagen. Doktor Cameristus war ein schwärmerischer und gläubiger Mann, Führer der Vitalisten und poetischer Verteidiger der abstrakten Doktrinen van Helmonts; er sah im menschlichen Leben ein geheimnisvolles höheres Prinzip, eine unerklärliche Erscheinung, der man mit dem Skalpell nicht beikommen kann, die der Chirurgie spottet, den Arzneien der Pharmazeutik, den X der Algebra, den Demonstrationen der Anatomie entschlüpft und all unser Mühen verlacht: eine Art unfaßbare, unsichtbare, irgendeinem göttlichen Gesetz unterworfene Flamme, die oftmals in einem Körper weiterbrennt, über den wir längst das Todesurteil gesprochen haben, wie sie zuweilen auch die lebenskräftigsten Naturen verläßt.
Ein sardonisches Lächeln glitt über die Lippen des dritten, des Doktor Maugredie. Er war ein ausgezeichneter Kopf, aber ein Skeptiker und Spötter, der an nichts als ans Skalpell glaubte, Brisset den Tod eines Menschen zugestand, dem es ausgezeichnet ging, und wiederum mit Cameristus anerkannte, daß ein Mensch noch nach seinem Tode weiterleben könne. Er fand in allen Theorien etwas Gutes, schloß sich keiner an, behauptete, das beste System in der Medizin sei, keins zu haben und sich an die Tatsachen zu halten. Dieser Panurg, dieser König der Beobachtung, der große Diagnostiker und große Spötter, der Mann der verzweifelten Versuche, machte sich jetzt mit dem Chagrinleder zu schaffen.
»Ich möchte mich gern von dem Zusammenhang zwischen Ihren Wünschen und seiner Verkleinerung mit eigenen Augen überzeugen«, sagte er zu dem Marquis.
»Wozu denn?« rief Brisset.
»Wozu denn?« wiederholte Caméristus.
»Ah! Sie sind sich einig«, meinte Maugredie.
»An dieser Zusammenziehung ist weiter nichts Besonderes«, meinte Brisset.
»Sie ist übernatürlich«, sagte Caméristus.
»Ja, in der Tat«, versetzte Maugredie und nahm eine ernste Miene an, während er Raphael sein Chagrinleder zurückgab; »so ist zum Beispiel die hornartige Verhärtung der Haut eine unerklärliche und dennoch natürliche Tatsache, die seit der Erschaffung der Welt die Medizin und die hübschen Frauen zur Verzweiflung treibt.«
Wie genau Valentin seine drei Ärzte auch beobachtete, er entdeckte bei ihnen keinerlei Mitgefühl für seine Leiden. Alle drei blieben nach jeder Antwort stumm, maßen ihn mit gleichgültigen Blicken und fragten ihn aus, ohne ihn zu bedauern. Hinter ihrer Höflichkeit war kühle Teilnahmslosigkeit zu spüren. Sei es, daß sie ihrer Sache sicher, sei es, daß sie in tiefes Nachdenken versunken waren, ihre Worte flossen so spärlich, so träge, daß Raphael manchmal glaubte, sie wären mit ihren Gedanken woanders. Von Zeit zu Zeit antwortete lediglich Brisset: »Gut! Schön!« auf alle hoffnungslosen Symptome, die Bianchon aufzeigte. Caméristus verharrte in einer tiefen Träumerei; Maugredie erinnerte an einen Lustspieldichter, der zwei Originale studiert, um sie treu auf die Bühne zu bringen. Das Gesicht Bianchons verriet große Sorge und traurige Ergriffenheit. Er war erst zu kurze Zeit Arzt, um vor dem Schmerz stumpf, vor dem Bett eines Sterbenden unerschüttert bleiben zu können; er vermochte die Freundestränen nicht zu unterdrücken, die einen Menschen hindern, klar zu sehen und wie ein Befehlshaber den für den Sieg günstigen Augenblick zu packen, ohne