»Er arbeitet an einer Dichtung«, rief der alte Professor.
»Sie glauben, er schreibt ein Gedicht, Monsieur? Das muß ja eine schöne Plackerei sein, was? Aber sehen Sie, ich glaub das nicht. Er sagt mir oft, er wolle durchaus vergetieren, ja, sagen wir einmal, ganz vegetatierisch wolle er leben. Ja, erst gestern, Monsieur Porriquet, besah er sich eine Tulpe, so beim Ankleiden, wissen Sie, und da sagte er: »So ist mein Leben. Ich vergetiere, guter Jonathas!« Nun wahrhaftig, es gibt andere, die behaupten, er sei ein Monomane. Das ist unweigerlich!«
»Das alles beweist mir«, versetzte der Professor mit schulmeisterlicher Würde, die dem alten Kammerdiener tiefen Respekt einflößte, »daß Ihr Herr sich mit einem großen Werk beschäftigt. Er ist in tiefe Meditationen versunken und will durch die Bedürfnisse des gemeinen Lebens nicht davon abgelenkt werden. Ein geistvoller Mensch vergißt in seiner Gedankenarbeit alles. Eines Tages verbrachte der berühmte Newton …«
»Ah! Newton, schön …«, sagte Jonathas; »den kenne ich nicht.«
»Newton, ein großer Mathematiker«, fuhr Porriquet fort, »blieb 24 Stunden unbeweglich sitzen, die Ellbogen auf einen Tisch gestützt; als er aus seinem Sinnen erwachte, glaubte er, es sei noch der vorige Abend, als hätte er geschlafen. Ich will den lieben Jungen sehen, ich kann ihm nützlich sein.« »Halt!« rief Jonathas. »Und wenn Sie der König von Frankreich wären, der alte natürlich, würden Sie nur hineingelangen, wenn Sie die Türen sprengten und über mich hinwegschritten. Aber, Monsieur Porriquet, ich lauf hin und sag ihm, daß Sie da sind, und frage ihn etwa so: »Soll man ihn heraufkommen lassen?« Dann kann er ja oder nein antworten. Niemals sage ich zu ihm: »Wünschen Sie? Wollen Sie? Möchten Sie?« Solcherlei Worte sind aus unserem Gespräch gestrichen. Einmal ist mir solch eins entwischt, und da fragte er mich gleich in vollem Zorn: »Willst du mich töten?«
Jonathas ließ den alten Lehrer im Vestibül zurück und bedeutete ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren; aber es dauerte nicht lange, bis er mit einem günstigen Bescheid zurückkam und den alten pensionierten Professor durch kostbar ausgestattete Gemächer führte, deren Türen samt und sonders offenstanden. Porriquet sah seinen Schüler schon von weitem an seinem Kamin sitzen. Raphael trug einen auffallend gemusterten Schlafrock, saß in einem bequemen Lehnstuhl und las die Zeitung. Die tiefe Schwermut, der er zum Opfer gefallen schien, drückte sich in der hinfälligen Haltung seines abgezehrten Körpers aus; sie stand auf seiner Stirn und auf seinem bleichen Antlitz, das einer verkümmerten Blüte glich. Seine Erscheinung verriet eine gewisse weibliche Anmut und die reichen Kranken eigenen bizarren Absonderlichkeiten. Seine Hände waren weiß, weich und zart wie die einer hübschen Frau. Seine blonden, bereits schütteren Haare lockten sich mit gesuchter Koketterie um seine Schläfen. Eine griechische Kappe aus Kaschmir wurde von einer für den leichten Stoff zu schweren Quaste heruntergezogen und saß schief auf seinem Kopf. Er hatte ein mit Gold ausgelegtes Malachitmesser, das er zum Aufschneiden eines Buches benutzt hatte, achtlos zu Boden fallen lassen. Auf seinen Knien lag das Bernsteinmundstück einer prachtvollen indischen Nargileh, deren glasierter Schlauch sich wie eine Schlange in seinem Zimmer ringelte, doch er vergaß, ihren frischen Duft einzuziehen. Die offenkundige Schwäche seines jungen Körpers wurde indessen von blauen Augen Lügen gestraft, in die sich das ganze Leben zurückgezogen zu haben schien: ein außerordentliches Gefühl strahlte aus ihnen, das sogleich ergriff. Dieser Blick tat weh, wenn man ihn sah. Der eine mochte Verzweiflung darin lesen; ein anderer einen inneren Kampf ahnen, der so schrecklich sein mußte wie Gewissenspein. Es war der tiefe Blick des Ohnmächtigen, der seine Wünsche auf den Grund seines Herzens zurückdrängt, oder der Blick des Geizigen, der in Gedanken mit all den Freuden spielt, die sein Geld ihm verschaffen könnte und auf die er verzichtet, um seinen Schatz nicht anzutasten; oder der Blick des gefesselten Prometheus, des gescheiterten Napoleon, der 1815 im Elysée vom strategischen Fehler seiner Feinde erfährt, für 24 Stunden das Kommando verlangt und es nicht erhält. Wahrhaft der Blick des Eroberers und Verdammten! Ja, mehr noch, der Blick, den Raphael einige Monate zuvor auf die Seine oder auf das letzte Goldstück geworfen hatte, das er im Spiel setzte. Er unterwarf seinen Willen, seinen Intellekt dem plumpen gesunden Menschenverstand eines alten Bauern, den 50 Jahre Dienststellung nur notdürftig zivilisiert hatten. Fast froh, eine Art Automat zu werden, entsagte er dem Leben, um zu leben, und versagte seiner Seele alle Poesie des Wünschens. Um der grausamen Macht, deren Herausforderung er angenommen hatte, besser entgegenzutreten, war er nach Art des Origenes keusch geworden, indem er seine Phantasie entmannte. An dem Tag, nachdem er, durch ein Testament schlagartig reich geworden, gesehen hatte, wie das Chagrinleder kleiner wurde, hatte er seinen Notar aufgesucht. Dort hatte ein damals beliebter Arzt beim Dessert allen Ernstes erzählt, wie ein Schweizer sich von der Schwindsucht geheilt hatte. Dieser Mann hatte zehn Jahre lang kein Wort gesprochen und sich gezwungen, nur sechsmal in der Minute in der dicken Luft eines Kuhstalles zu atmen, außerdem hatte er nur ganz leichte Speisen zu sich genommen. »So werde ich es auch machen!« hatte sich Raphael gesagt. Er wollte um jeden Preis leben. Von Luxus umgeben, führte er das Leben einer Maschine. Als der alte Professor diesen jungen Leichnam ansah, erbebte er; alles schien ihm an diesem schmächtigen und gebrechlichen Körper künstlich zu sein. In diesem Marquis mit dem brennenden Blick, der gedankenschweren Stirn konnte er nicht mehr den Schüler mit dem frischen und rosigen Gesicht, den jugendlichen Gliedern erkennen, wie er in seiner Erinnerung lebte. Wenn der wackere Verfechter klassischer Ideale, der feinsinnige Kritiker und Bewahrer des guten Geschmacks Lord Byron gelesen hätte, hätte er geglaubt, einen Manfred vor sich zu sehen, wo er einen Childe Harold erwartet hatte.
»Guten Tag, Vater Porriquet«, sagte Raphael zu seinem Lehrer und drückte die eisigen Finger des alten Mannes mit seiner heißen, feuchten Hand. »Wie geht es Ihnen?«
»Mir geht es schon gut«, erwiderte der Greis, von der Berührung mit dieser fiebernden Hand erschreckt. »Und Ihnen?«
»Oh! Ich hoffe, mich bei guter Gesundheit zu erhalten.«
»Sie arbeiten ohne Zweifel an einem schönen Werk?«
»Nein«, erwiderte Raphael, »exegi monumentum, Vater Porriquet, ich habe eine große Schrift vollendet und der Wissenschaft für immer Valet gesagt. Ich weiß nicht einmal genau, wo mein Manuskript sich befindet.«
»Es ist doch hoffentlich in einem reinen Stil geschrieben?« fragte der Professor; »ich hoffe, Sie haben nicht die barbarische Sprache dieser neuen Schule angenommen, die wunder was zu tun glaubt, wenn sie Ronsard entdeckt!«
»Mein Werk ist ein rein physiologisches Buch.« »Oh, damit ist alles gesagt!« gab der Professor zurück; »in den Wissenschaften muß die Grammatik den Erfordernissen der Entdeckungen Genüge leisten. Nichtsdestoweniger, mein Sohn, kann ein klarer, harmonischer Stil, die Sprache Massillons, Monsieur de Buttons, des großen Racine, kurz, ein klassischer Stil nie von Schaden sein. Aber, mein Freund«, unterbrach sich der Professor, »ich vergaß den Zweck meines Besuchs. Es ist ein eigennütziger Besuch.«
Raphael erinnerte sich zu spät der wortreichen Eleganz und der beredten Umschreibungen, an die ein langjähriges Professorendasein seinen alten Lehrer gewöhnt hatte. Er bereute jetzt fast, ihn empfangen zu haben; aber in dem Augenblick, als er geneigt war, den Alten lieber wieder draußen zu sehen, unterdrückte er hastig diesen geheimen Wunsch und warf einen verstohlenen Blick auf das Chagrinleder, das vor ihm, auf einen weißen Stoff gespannt, hing, auf dem seine prophetischen Konturen sorgfältig mit einer roten Linie nachgezogen waren, die das Leder genau abschlossen. Seit der verhängnisvollen Orgie unterdrückte Raphael den leisesten Anflug eines Begehrens und lebte in einer Weise, die dem schrecklichen Talisman nicht das geringfügigste Zucken verursachen konnte. Das Chagrinleder war wie ein Tiger, mit dem er leben mußte, ohne seine blutdürstigen Instinkte zu wecken. Er hörte also die weitläufigen Erklärungen des alten Professors geduldig an. Vater Porriquet brauchte eine Stunde, um ihm von den Verfolgungen zu erzählen, deren Gegenstand er seit der Julirevolution geworden war. Der biedere Bürger hatte, vom patriotischen Verlangen nach einer starken Regierung beseelt, geäußert, man möge die Krämer in ihren Läden, die Staatsmänner in der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten,