Langsam gewöhnten seine Augen sich an die herrschenden Lichtverhältnisse. Er erkannte die langgestreckten Lagerhallen im Hintergrund, sah knapp neben sich eine Mauer, die halb eingestürzt war und beobachtete einige Meter vor sich den Bug eines Kahns, der halb im Schlick zu stecken schien.
Man mußte sie in irgendeinen Hafen gebracht haben. Sie? Wo aber war dann Lady Simpson? Parker fühlte sich verantwortlich für seine Herrin und wollte gerade diskret nach ihr rufen, als er ihr grollendes Räuspern hörte.
»Mylady?« fragte er jedoch sicherheitshalber in die Dunkelheit hinein.
»Verdammte Ratte«, lautete die etwas überraschende Antwort. Und fast gleichzeitig mit diesem Ausruf erfolgte ein halblautes Klatschen. Ein schrilles Quieken war zu vernehmen, hastiges Trippeln überall, dann herrschte für einen Augenblick wieder Stille.
»Darf man unterstellen, daß Mylady sich den Umständen entsprechend wohl fühlen?« fragte Parker.
»Wo stecken Sie?« war die Gegenfrage.
»Ich werde mir erlauben, Mylady ein Lichtzeichen zu geben.« Parker griff nach einer der vielen Westentaschen seines Anzugs und holte einen Patentkugelschreiber hervor. Es handelte sich dabei um eine geschickt getarnte Miniatur-Taschenlampe von hoher Lichtstärke. Der Butler schaltete diese Taschenlampe ein und suchte mit dem Lichtstrahl nach Lady Simpson.
Sie arbeitete sich gerade machtvoll und energisch aus einem Berg alter und deformierter Pappkartons. Ihr Hut, eine Art Kreuzung aus Südwester und Napfkuchenform, saß schief auf dem Kopf. Nasse Holzwolle rahmte fast schon dekorativ ihr Gesicht.
»Was haben Sie uns da wieder eingebrockt?« grollte sie prompt, als Parker ihr half.
»Mylady sehen meine bescheidene Wenigkeit irritiert«, antwortete der Butler.
»Wo hat man uns eigentlich abgeladen?« wollte sie wissen.
»Es scheint sich hier um ein verlassenes Dock zu handeln. Mylady fühlen sich wohl?«
»Mein Kreislauf scheint nicht ganz in Ordnung zu sein«, stellte sie fest.
»Sofort, Mylady.« Parker hatte verstanden. Er griff in eine der Innentaschen seines schwarzen Zweireihers und holte eine flache, lederumhüllte Flasche hervor. Er schraubte den Verschluß ab, der als Becher diente, und goß ein wenig von dem alten, französischen Kognak ein.
Lady Agatha kippte den Inhalt des kleinen Silberbechers gekonnt hinunter und nickte fast schon wieder wohlwollend.
»Worauf warten Sie noch?« fragte sie dann ungeduldig, als Parker fragend schaute. »Natürlich brauche ich einen zweiten Kreislaufbeschleuniger.«
Parker servierte ihr den gewünschten zweiten Kognak, den sie schluckweise genoß.
»Man hat uns betäubt«, sagte sie später grimmig. »Damit hätten Sie rechnen müssen.«
»Ich werde Mr. Hua Li selbstverständlich zur Rechenschaft ziehen«, antwortete der Butler. »Darf ich mir erlauben, Mylady in zivilisiertere Bereiche zu führen?«
»Und dann sofort zurück zu diesem Hua Li«, forderte sie energisch. »Ich bin in der richtigen Stimmung, dem Subjekt eins auf den Pelz zu brennen.«
»Vorsicht, Mylady!« Parker sprach plötzlich leise. »Mir scheint, daß wir Besuch bekommen. Vielleicht sollten wir uns wieder niederlegen.«
Er hatte das Licht der kleinen, aber leistungsstarken Taschenlampe bereits ausgeschaltet und half der älteren Dame zurück auf die Pappkartons. Dann bezog auch er Position und wartete auf das Erscheinen zumindest einer einzigen Person, deren Schritte jenseits des Müllberges zu hören waren.
*
Kathy Porter hatte sich nicht getäuscht.
Butler Parkers Wagen hing am Haken eines Abschleppwagens, doch er rührte sich nicht. Seine Hinterräder waren derart blockiert, daß der anziehende Abschleppwagen keinen Zentimeter gewann.
Währenddessen aber stieß das hochbeinige Monstrum weiterhin Rußwolken aus und hüllte die gesamte Szene in tiefes Schwarz. Die neugierigen Zuschauer wichen verständlicherweise noch weiter zurück und amüsierten sich über die drei verzweifelten Männer, die den Wagen abschleppen wollten.
Es handelte sich um Chinesen, die Overalls trugen. Es paßte ihnen gar nicht, daß sie im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses standen. Sie gestikulierten, redeten aufeinander ein und benutzten natürlich ihre Muttersprache, die Kathy Porter nicht verstand.
Verärgerte Anwohner hatten inzwischen die Polizei alarmiert. Von fern her war die Sirene eines Polizeistreifenwagens zu vernehmen. Dieses nervenverschleißende Geräusch machte die drei Overallträger noch unruhiger. Plötzlich, als das Polizeifahrzeug sich durch die neugierige Menge schob, setzten sie sich einfach ab. Sie waren an dem Abschleppversuch nicht weiter interessiert.
Kathy Porter heftete sich an die Fersen der drei Chinesen, die getrennte Wege einschlugen, als sie eine kleine Straßenkreuzung erreicht hatten. Kathy entschied sich für den größten der drei Männer, der ihrer Beobachtung nach der Wortführer gewesen war.
Ihre Verfolgung fiel hier in Soho nicht weiter auf. Selbst um diese Zeit herrschte in den Straßen, Gassen und Passagen noch viel Betrieb. Soho, das Vergnügungszentrum der Millionenstadt, ging erst in den frühen Morgenstunden zur Ruhe.
Kathy Porter konnte immer wieder hinter Passanten verschwinden, sich fast unsichtbar machen und den Blicken des Chinesen entziehen, der sich hin und wieder umwandte und nach Verfolgern Ausschau hielt.
Sie hatte sich ihren leichten Trenchcoat abgestreift und ihn gewendet. Er war jetzt zu einem billig aussehenden Lackmantel geworden, zu einem Bekleidungsstück, wie es die Damen eines gewissen leichten Gewerbes zu tragen pflegten. Kathy hatte sich ein buntes Halstuch hinter das Haar gebunden und sah jetzt sehr kokett und einladend aus.
Lange dauerte die Verfolgung nicht.
Der Chinese betrat eine schmale Ladenpassage und verschwand in einem Geschäft, das laut Reklameaufschrift eine Maßschneiderei beherbergte. Durch das kleine Schaufenster konnte Kathy Porter gerade noch erkennen, daß der Chinese eine Umkleidekabine am Ende der langen Verkaufstheke betrat.
Sie wechselte zur anderen Straßenseite hinüber und baute sich im Eingang zu einem Haus auf. Inzwischen hatte sie das bunte Tuch aus dem Haar entfernt und den Lackmantel weit geöffnet. Durch Raffen und Heben des Rocks schuf sie die Illusion, man habe es mit einem besonders leichten Mädchen zu tun.
Lange brauchte sie nicht zu warten.
Nach etwa drei Minuten erschien ein zweiter Chinese, der unbedingt um diese Zeit wohl einen Maßanzug kaufen wollte. Er trug keinen Overall, war jedoch identisch mit einem der drei Abschlepper, die Kathy an Parkers Wagen beobachtet hatte.
Dieser angebliche Kunde betrat das Geschäftslokal und verschwand ebenfalls in der Umkleidekabine.
Nach weiteren fünf Minuten tauchte der dritte Abschlepper auf. Auch er verspürte das dringende Bedürfnis, sich mit einem Maßanzug zu versehen. Er schlüpfte in die Maßschneiderei und benutzte denselben Weg wie seine beiden Vorgänger.
Kathy Porter verließ den Hauseingang und ging zurück zu jener Stelle, wo sie Parkers Wagen gesehen hatte. Er hing zwar noch am Haken, produzierte jedoch keine Rußwolken mehr. Zwei recht ratlos aussehende Polizisten sicherten den Wagen, hielten jedoch auf Distanz. Sie schienen diesem seltsamen Gefährt nicht recht über den Weg zu trauen.
Kathy hatte sich in eine seriöse junge Dame zurückverwandelt. Sie trat auf einen der Beamten zu, grüßte freundlich, stellte sich als Lady Simpsons Sekretärin vor und identifizierte das hochbeinige Monstrum eines gewissen Butler Parkers.
Die beiden Beamten verhielten sich reserviert, ließen sich Kathy Porters Papiere zeigen und wurden erst dann zutraulicher, als die junge Dame sich erbot, den Wagen nach Shepherd’s Market zu fahren.
Die Wagenschlüssel zauberte sie förmlich