Prolog
»Weg nach Winkelsteg.« Diese Worte standen am Holzarm. Aber der Regen hatte die altförmigen Buchstaben schier verwaschen, und der Balken selbst wackelte im Wind.
Ringsum ist struppiger Tannenwald; über demselben stehen ein paar uralte Lärchen empor, deren kahles Geäste weit hineinragt in den Himmel. In der Tiefe einer felsigen Schlucht braust Gewässer. Unzählige Male hat die alte Bergstraße mittels schiefer, halb eingesunkener Holzbrücken über diesen Alpenbach geführt, bis da herein, wo der Bergwald rechts sich lichtet und zwischen den Wipfeln zum ersten Male die Gletscher niederleuchten auf den Wanderer, der aus bevölkerten Gegenden kommt.
Der Wildbach gießt von den Gletschern her. Die Straße aber wendet sich links, milderen Waldgeländen zu, um nach Öden und Wildnissen endlich wieder in belebte Ortschaften einzuziehen. Dem Flußgebiet entlang zieht nur ein verschwemmter steiniger Hohlweg, über welchen der Sturm Fichtenstämme geworfen hatte, die nun seit Jahrzehnten dort lehnen und dorren.
Hier am Scheidewege auf dem Felsen stand ein hohes hölzernes Kreuz mit drei Querbalken und den bildlich dargestellten Marterwerkzeugen der heiligen Leidensgeschichte, als: Speer, Schwammstab, Zange, Hammer und den drei Nägeln. Das Holz war wettergrau und bemoost. Eng daneben stand der Balken mit dem Arme und der Inschrift: »Weg nach Winkelsteg.«
Dieses Zeichen wies den verwahrlosten steinigen Weg mit dem Gefälle – gegen das enge Hochtal, in dessen Hintergrunde die Schneefelder liegen. In fernster Höhe, über den licht sich hinziehenden Schneetüchern, ragt ein grauer Kegel auf, an dessen Spitze Nebelflocken hängen.
Ich saß auf einem Felsblock neben dem Kreuze und blickte zu jener grauen Spitze empor. Das war der weit und breit berühmte und berüchtigte graue Zahn – das Ziel meiner Gebirgsreise.
Als ich so dasaß, hauchte jenes Gefühl durch meine Seele, von dem kein Mensch zu sagen weiß, wie es entsteht, was es bedeutet und warum es so sehr das Herz beklemmt, gleichsam mit einem Panzer der Ergebung umgürtet, auf daß es gerüstet sei gegen ein Etwas, das kommen muß. Ahnung nennen wir den wundersamen Hauch.
Ich hätte vielleicht noch länger geruht auf dem Steine und dem Tosen des Wildwassers gelauscht; allein mir schien, als streckte sich der Holzarm immer länger und länger aus, und zum Mahnrufe wurden mir die Worte: »Weg nach Winkelsteg.«
Und wahrhaftig, als ich mich erhob, da sah ich, daß mein Schatten schon ein gut Stück länger war als ich selbst. Und wer weiß, wie weit ab es noch lag, das letzte und kleinste Dorf Winkelsteg.
Ich ging rasch und sah nicht viel um. Ich merkte nur, daß die Wildnis immer größer wurde. Rehe hörte ich röhren im Wald, Geier hörte ich pfeifen in der Luft. Es begann zu dunkeln, und es war noch nicht Zeit zum Nachten. Über dem Gebirge lag ein Gewitter. Ein halb ersticktes Murren war zu hören, und nicht lange, so erhob sich ein Grollen und Rollen, als ob all die Felsen und Eiswuchten des Hochgebirges tausend- und tausendfach aneinander prallten. Die Bäume über mir bogen sich mächtig hin und her, und in den breiten Blättern eines Ahorns rauschten schon die großen eiskalten Tropfen.
Das Gewitter ging bis auf diese wenigen Tropfen vorüber. Weiter drin aber mußte es ärger gewesen sein, denn bald brauste mir im Hohlweg ein wilder Gießbach mit Erde, Steinen, Eis- und Holzstücken entgegen. Ich rettete mich an die Lehne hinan und kam mit großer Mühe vorwärts.
Über der Gegend lag nun Nebel, und an den Ästen der Tannen stieg er nieder bis zu dem feuchten Heidekraut des Bodens.
Als es gegen die Abenddämmerung ging und als die Waldschlucht sich ein wenig weitete, kam ich in ein schmales Wiesental, dessen Länge ich des Nebels wegen nicht ermessen konnte. Die Matten waren bedeckt mit Eiskörnern; der Bach hatte sein Bett überschritten und hatte die Brücke fortgerissen, die mich hätte hinübertragen sollen auf das jenseitige Ufer, von wo mir durch das Nebelgrauen ein weißes Kirchlein und die Bretterdächer einiger Häuser zuschimmerten.
Es war frostig kalt. Ich rief hinüber zu den Leuten, die am Wasser arbeiteten, Holzblöcke auffingen und den Fluß zu regeln suchten. Sie schrien mir die Antwort zurück, sie könnten mir nicht helfen, ich müsse warten, bis das Wasser abgelaufen sei.
Bis so ein Gießwasser abläuft, das kann die ganze Nacht währen. Ich wage es und will durch den Fluß waten. Aber als sie drüben diese meine Absicht bemerken, winken sie mir warnend ab. Und bald stemmt ein großer, hagerer, schwarzbärtiger Mann eine Stange an und schwingt sich mittels derselben zu mir herüber. Dann häuft er hart am Ufer einige Steine übereinander und legt auf dieselben das Brett, welches die anderen über die Fluten herüberschieben. – Dann nahm er mich an der Hand und sagte: »Nur fest anhalten!« und führte mich über das schaukelnde Brett an das andere Ufer.
Während wir über dem Wasser schwebten, hub das Aveglöcklein an zu klingen, und die Leute zogen ihre Hüte ab.
Der große schwarze Mann geleitete mich über die knisternden Eiskörner zum Dörfchen hinan. »So ist es«, brummte er unterwegs, »läßt der Herrgott was aufwachsen, haut's der Teufel wieder in die Erden hinein. Die Kohlpflanzen sind hin bis auf das letzte Stammel; und das letzte Stammel auch. Der Hafer liegt auf dem Hintern und reckt seine Knie gegen den Himmel hinauf.«
»Das Wetter hat so viel Schaden getan?« sagte ich.
»Das seht Ihr«, versetzte er.
»Und weiter draußen, da hat's kaum getropft.«
»Das glaube ich. 's ist allemal nur uns Winkelstegern vermeint. Vom heutigen Tag an darf sich eins den ganzen Sommer über wieder nicht satt essen, wollen wir für den Winter den Magen nicht in den Rauchfang hängen.« So antwortete er.
Das Dorf bestand aus drei oder vier größeren hölzernen Häusern, einigen Hütten, rauchenden Kohlstätten und dem Kirchlein.
Vor einem der größeren Häuser, an dessen Tür ein breiter, von vielen Tritten zerschleifter Antrittstein lag, blieb mein Begleiter stehen und sagte: »Kehrt der Herr bei mir ein? Ich bin der Winkelwirt.« Er deutete bei diesen Worten auf das Haus, als ob das sein Ichselbst wäre.
Bald hernach war ich in der Stube. Die Wirtin nahm mir gar behende die Reisetasche und den feuchten Überrock ab und brachte mir ein paar Strohschuhe herbei. »Nur gleich das nasse Leder aus und die Schliefschuhe anstecken; nur fein gleich, fein gleich, ein nasser Schuh auf dem Fuß läuft zum Bader!« Nicht lange, so saß ich trocken und bequem an dem großen Tische unter dem Hausaltar und unter Wandleisten, auf welchen der Reihe hin buntbemaltes Ton- und Porzellangeschirr lehnte. Auf dem Gläsergestelle war eine Unzahl von Kelchfläschchen umgestülpt, und der Wirt fragte mich gleich, ob ich Branntwein begehre. Ich verlangte Wein.
»Ist wohl kein Tröpfel im Keller gewesen, solang das Haus steht«, sagte der Wirt unmutig, »aber Holzapfelmost hätt' ich einen rechtschaffenen guten.«
Das war mir schon recht; doch als er in den Keller gehen wollte, trippelte sein Weib herbei, nahm ihm hastig den Schlüssel aus der Hand: »Geh, Lazarus, schneuz dem Herrn das Licht; fein geschwind, Lazarus, wirst schon dein Tröpfel noch kriegen.«
Ein wenig brummend kam er zum Tisch zurück, reinigte den Docht der Unschlittkerze, sah mich eine Weile so an und sagte endlich: »Der Herr ist zuletzt gar unser neuer Schulmeister? – Nicht? So, auf den grauen Zahn hinauf geht die Wander? Wird morgen wohl nicht gehen. Ist auch diesen Sommer noch kein Mensch hinaufgestiegen. Das muß einer im Frühherbst tun; zur andern Zeit ist kein Verlaß auf das Wetter. – Nu, wie man halt schon so nachgrübelt; ich hab' gemeint, der Herr dürft' der neue Schulmeister sein. Es versteigt sich sonst wunderselten einer da herein, der nicht herein gehört. Auf den neuen Schulmeister warten wir schon alle Tag. Der alte ist uns durchgegangen; – hat der Herr nichts gehört?«
»So, Lazarus, tu schön fein plaudern mit dem Herrn«, sagte die Wirtin in zärtlichem Tone zu ihrem Manne, als sie mir den Most und zugleich auch die Abendsuppe