Ambrosius gab Rosa die nötigen Verhaltungsmaßregeln für den Abend. Um neun Uhr sollte Ida an der Hintertreppe der Herzschen Wohnung Rosas kleinen Handkoffer in Empfang nehmen. Rosa selbst sollte – auf einem anderen Wege als Ida – sich durch den Stadtgarten zur Brücke begeben, und in der Nähe des Brückenkruges wollte Ambrosius mit dem Wagen sie erwarten. Der Plan war einfach genug. »Und dann, Amby – können wir endlich fort«, rief Rosa in der leidenschaftlich offenen Freude eines Kindes, dem man ein längst versprochenes Vergnügen endlich gewährt. So schieden sie, um sich erst am Abend beim Brückenkruge wiederzusehen.
Da der Vormittag noch lang war, beschloss Rosa, einen Gang durch die Stadt zu machen – zum letzten Mal – das gehört sich so. Die Tageszeit war günstig, denn eben erst hatten die Kirchenglocken den Gottesdienst eingeläutet. Nicht als ob Rosa sich vor einer Begegnung mit Sally oder Ernestine Klappekahl gefürchtet hätte! Nein! Will man aber Abschied von seiner Heimat nehmen, so bedarf man der Einsamkeit, nicht wahr?
Die Straßen und der Marktplatz waren leer, wie stets zur Kirchenzeit, nur in der Ferne sah Rosa das alte Fräulein Katter einhertrippeln; ihr Atlasmantel glänzte in der Sonne, der Dachs folgte ihr – breitbeinig und verstimmt – ab und zu die Nase in die Gosse steckend. Sie hatten sich heute beide mit dem Kirchgang verspätet.
Die große, gelb angestrichene Türe des Laninschen Ladens war gesperrt, selbst der Mohr auf dem Schilde davor schien zu schlummern. Oh, welch eine verächtlich blöde Trägheit brütete über diesem Hause. Rosa konnte es sich deutlich vorstellen, wie es dort heute zugehen würde: Die Zimmer voller Suppengeruch – Herr Lanin voll fader Geschichten, Frau Lanin mit ihrem langen, weichen Munde beständig gähnend – und Sally – – mein Gott, die Arme! Und während Rosa vor diesem Hause stand, stieg wieder die Freude – groß und unruhig in ihr auf. Sie brauchte dieses Leben nicht mehr zu teilen.
Sie ging weiter – überall dieselbe Stille. Die Häuser waren wohlverschlossen und wie ausgestorben, nur in den Küchen hörte man es klappern, oder hier und da stand eine Dienstmagd, die das Haus bewachen sollte, unter dem Hoftor, die Haare feucht an die Schläfen gekämmt, das Kamisol frisch gewaschen, und sprach mit einem Burschen. Die kleinen Ereignisse, die sich in der Stille der Kirchenzeit abspielen, das Kichern unter den Toren, das heimliche, vergnügte Treiben unbeaufsichtigter Dienstboten und Kinder hatten Rosa früher, wenn sie sich auf dem Gange in die Kirche verspätete, ein neugieriges Interesse eingeflößt. Heute kam plötzlich ein wunderliches Verstehen über sie, das sie quälte und ihr missfiel. Diese dicken, hochbusigen Mägde, diese plumpen, unreinlichen Burschen, sie hatten zwischen Kessel und Pfanne, zwischen Kohlstrünken und Salatblättern ihre Liebesgeschichten. Rosa begriff nun, was sie wollten, was sie trieben, und es schien ihr, als würde ihr eigenes Schicksal dadurch entweiht. Dieses aufdringliche Klarsehen machte sie traurig; sie seufzte; sie hatte sich manches doch schöner gedacht!
In den entlegneren Stadtteilen – am Fluss – sah es weniger feiertäglich aus. Die armen Leute hatten noch nicht Zeit gefunden, ihre guten Kleider anzulegen. Frauen mit ungekämmtem, wirr auf das missmutige Gesicht herabhängendem Haar standen in den engen Hofräumen und wuschen Erdäpfel oder Salat. Nackte Kinder sprangen zwischen den Schweinen und Hühnern umher. Hinter den morschen Bretterzäunen langten kümmerliche Apfelbäume mit ihrem eckigen Gezweige auf die Straße hinaus. Weiter hinab wurden die Häuser seltener. Kartoffelfelder und Weideland zogen sich am Flussufer hin; magere Pferde standen dort; die Hufe tief im roten Heidekraut, hielten sie im Grasen inne und nickten sinnend mit den Köpfen. Am Rande des steil abfallenden Ufers wollte Rosa ausruhen; sie legte sich nieder, den Leib im Grase, mit den Füßen in der Luft umherschlagend, den Kopf in die Hände gestützt, und biss an einem Halm. Unten lag der Sonnenschein, ein blankes Zittern auf dem träg rinnenden Wasser des Flusses.
Rosa blickte dem Rinnen des Wassers nach. Klare, festumrissene Gedanken wollten in ihrem Kopfe nicht mehr standhalten, nur ein wohliges Auf- und Abfluten von Bildern und Empfindungen regte sich in ihr. Sie kamen und brachen wieder ab, wie das Geigen der Feldgrillen ringsum im Grase – und es lag über ihnen ich weiß nicht welch unklare Traurigkeit, die einen seltsamen Frieden in sich barg. Die Ereignisse der letzten Tage, dieses beständige sich selbst Mut zusprechen, das Ringen mit unangenehmen Gedanken hatten Rosa müde gemacht, das fühlte sie plötzlich. Hier, am warm beschienenen Abhange, kam eine lähmende Erschlaffung über sie, die Kraft fehlte ihr, abzuwehren, festzuhalten, sie musste die Hände in den Schoß legen und achselzuckend sagen: »Es gehe, wie es geht.«
Wie das nur alles so kommen konnte. Unmerklich war es herangekrochen – nun war es da. Natürlich musste es so sein! Aber noch stand es fremd vor ihr wie etwas, an dem sie nicht teilhatte – sie, die friedliche Schanksche Schülerin, die jeden Morgen ihre große Mappe durch die Schulstraße geschleppt hatte. Rosa Herz, die nie die französischen Fabeln hersagen konnte und vor dem bevorstehenden Gouvernantenexamen zitterte, Rosa, die stundenlang zum Fenster hinausschaute und sich über das Gekicher auf dem Kirchenplatz ihre kindischen Gedanken machte, die sich um zehn Uhr niederlegte und vom Bett aus das schräge, mondbeglänzte Dach des Pfarrhauses anstarrte, bis ihr die Augen zufielen, diese ganz gewöhnliche Rosa liebte nun und ward geliebt; diese Rosa war jetzt die Person, vor der die Leute, die sie so gut kannte wie ihr Werktagskleid, ein Kreuz schlugen. Fräulein Katter, der Doktor, Ernestine, sie hielten sie für ein schlechtes Mädchen, mit dem man nicht sprechen darf. Sie war das verführte Mädchen; verführt – dieses Wort, das sie früher nicht aussprechen durfte, weil es unpassend war, nun gehörte es zu ihr, sie war jetzt eine unpassende Person. Was wohl Marianne darüber denken mochte? Und ob sie in der Schule nur ganz heimlich von Rosa sprechen durften, wie man sich sonst die dummen Geschichten erzählte, über die man errötete und kicherte? Rosa drückte die Augenlider zusammen und wiegte ihren Kopf schläfrig hin und her. Sie grämte sich über diese Dinge nicht, aber auch die Freude, in die sie sich hineingeredet hatte, war fort. Wer so daliegen könnte und abwarten. Es fließt ja doch vorüber, wie dort unten, immer zu, man braucht nur stillezuhalten. Dem müden Mädchen gefiel dieser Gedanke. Die lästige Arbeit, selbst am Leben mitzuwirken, schien unnötig, es fließt ja ohnehin vorüber! Im traumhaften Durcheinanderwogen der Vorstellungen folgte Rosa mit den Blicken dem Strom, als gehöre er zu ihr, als hinge für sie etwas von dem Rinnen dieses Wassers ab – fort – die Ufer entlang, an dem großen Stein hin, wo kleine