Erschreckt fuhr er herum und sah sich Angesicht zu Angesicht mit Dr. Gregory. »Weshalb sollte ich Sie besuchen?« fragte er mit dem Trotz der Verzweiflung.
»Weil Sie schwerkrank aussehen«, sagte der Arzt. »Sie brauchen offenbar ärztlichen Rat, mein junger Freund. Tüchtige Leute sind rar, wie Sie wissen; und nicht jeder würde im Leben eine solche Lücke zurücklassen. Hermiston vermißt nicht so leicht einen Menschen.«
Mit einem Kopfnicken und einem Lächeln setzte der Arzt seinen Weg fort.
In der nächsten Sekunde war Archie ihm nachgesprungen und packte jetzt seinerseits ungestüm des anderen Arm.
»Was soll das heißen? Was wollen Sie damit sagen? Was veranlaßt Sie zu dem Glauben, daß Hermis – daß mein Vater mich vermissen würde?«
Der Arzt drehte sich um und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß mit klinisch geschultem Auge. Auch ein weit dümmerer Mensch als Dr. Gregory hätte die Wahrheit erraten können, aber neunundneunzig von hundert würden selbst mit gleich gutem Willen wie er durch irgendeine wohlmeinende Übertreibung alles verdorben haben. Der Arzt wußte es besser. Er kannte den Vater genau; aus diesem bleichen, intelligenten, gequälten Gesicht sprach ein gut Teil von des Sohnes Wesen, und er berichtete die schlichte Wahrheit ohne Milderung oder Ausschmückung.
»Als Sie die Masern hatten, Mr. Archibald, erkrankten Sie sehr schwer, und ich dachte, Sie würden mir noch durch die Finger gehen. Nun, Ihr Vater war sehr besorgt um Sie. Sie werden mich fragen, woher ich das weiß. Einfach weil ich ein geschulter Beobachter bin. Das Zeichen, das ich ihn geben sah, wäre Zehntausenden entgangen; und doch hat er sich vielleicht – ich sage vielleicht, weil er ein Mann ist, den man nur schwer beurteilen kann – nie wieder verraten. Eine seltsame Sache das, nicht wahr? Es war so. Ich ging eines Tages zu ihm. ›Hermiston‹, sagte ich, ›es ist eine Wendung eingetreten.‹ Er sagte kein Wort, sondern funkelte mich nur so an (Sie werden den Ausdruck entschuldigen) wie ein wildes Tier. ›Eine Wendung zum Guten‹, sagte ich. Und dann hörte ich ganz deutlich, wie er aufatmete.«
Der Arzt wartete nicht erst eine Antiklimax ab. Mit einer Neigung seines Dreispitzes (ein altmodisches Stück, an dem er getreulich festhielt) und der vielsagenden Wiederholung »Ganz deutlich« verabschiedete er sich und ließ Archie sprachlos auf der Straße zurück.
Die Anekdote mochte unendlich belanglos sein, für Archie besaß sie einen unermeßlich tiefen Sinn. »Ich ahnte ja nicht, daß der Alte so viel Blut in sich hätte.« Niemals hatte er sich träumen lassen, daß sein Vater, dieses wahre Urbild eines »alten Römers«, dieser Adam aus Granit, ein Herz besäße, das überhaupt für irgendeinen anderen Menschen zu schlagen vermöchte; und dieser andere, er selbst, hatte ihn beleidigt! Mit der ganzen Großmut der Jugend schlug sich Archie sogleich auf die entgegengesetzte Seite, hatte sich im Augenblick ein völlig neues Bild von Lord Hermiston geschaffen: das eines Mannes, der nach außen hin Eisen, im Innern aber ganz Gefühl ist. Der Liebhaber niedriger Späße, der Jäger, der Duncan Jopp mit unmännlichen Beleidigungen in den Tod gehetzt, das ungeliebte Antlitz, das er so lange gekannt und gefürchtet hatte, alles war vergessen. Stürmisch eilte er nach Hause, voller Ungeduld, seine Missetaten zu beichten und sich völlig dieser imaginären Persönlichkeit auszuliefern.
Das rauhe Erwachen kam bald. Es dämmerte bereits, als er sich dem Hause näherte, in welchem schon die Lichter brannten, und er sah seinen Vater aus der anderen Richtung auf sich zukommen. Es war ziemlich dunkel, jedoch durch die offene Haustür strömte starkes, helles Lampenlicht über die Schwelle auf Archies Gestalt, während er in altmodischer, respektvoller Haltung wartete, um seinem Vater den Vortritt zu lassen. Der Richter kam ohne jede Hast mit würdevollem, festem Schritt, das Haupt hoch erhoben, das Gesicht (als er in den Lichtkreis trat) ebenfalls voll beleuchtet, die Lippen unerbittlich zusammengepreßt. Nicht der Schatten einer Veränderung huschte über dieses Gesicht; ohne nach rechts oder links zu blicken, ging er hart an Archie vorüber und betrat das Haus. Der Jüngling hatte bei seinem Nahen eine instinktive Bewegung zu seinem Willkomm gemacht; instinktiv wich er jetzt gegen das Geländer zurück, als der alte Mann in großartiger Empörung an ihm vorbeifegte. Worte waren überflüssig; er wußte alles, vielleicht sogar mehr als das – die Stunde des Gerichts war da. Es ist möglich, daß Archie nach diesem völligen Rückschlag all seiner Hoffnungen und angesichts jener Symptome drohender Gefahr versucht war, die Flucht zu ergreifen. Aber nicht einmal das blieb ihm übrig. Nach Ablegen von Mantel und Hut drehte sich Mylord in dem erleuchteten Vorraum um und machte ihm mit dem Daumen eine einzige, gebieterische Geste, und mit dem seltsamen Instinkt des Gehorsams folgte ihm Archie ins Haus.
Bei Tisch herrschte schweres, drückendes Schweigen, und als der letzte Gang serviert war, stand der Richter auf.
»M’Killup, bring den Wein in mein Zimmer«, befahl er, und zu seinem Sohn gewendet: »Archie, du und ich haben miteinander zu reden.«
In diesem elenden Moment war es, daß Archies Mut ihn das erste-und letztemal im Stich ließ. »Ich habe eine Verabredung«, erklärte er.
»So wirst du sie brechen müssen«, entgegnete Hermiston und schritt voran in sein Arbeitszimmer.
Die Lampe war abgeblendet, das Feuer vollendet sauber geschichtet, der Tisch dicht mit wohlgeordneten Dokumenten bedeckt; die Rücken der Bücher bildeten einen einheitlichen Rahmen, nur von dem Fenster und den Türen durchbrochen.
Einen Augenblick wärmte sich Hermiston die Hände am Feuer und kehrte Archie den Rücken zu; dann drehte er sich plötzlich um und zeigte ihm alle Schrecken seines Henkergesichts.
»Was sind das für Dinge, die ich von dir hören muß?« forderte er.
Eine Antwort war Archie unmöglich.
»Also muß ich sie dir sagen«, fuhr Hermiston fort. »Es scheint, du hast deine Stimme gegen den Vater, der dich gezeugt, erhoben