Zunächst aber beschloß ich, eine Sekundärbahn zu benutzen und meinem Heimatsorte, der in der Nähe lag, einen Besuch abzustatten.
Das war eine halbwegs sentimentale Anwandlung. Aber, lieber Gott! so ein Stückener fünfzehn Jahre mochte es her sein, daß ich das Nest nicht gesehen hatte. –
Am Vormittag kam ich an. Der Zug – halb Güter-, halb Personenzug – entlud sich seiner sechs Passagiere; der Bahnhofsinspektor kroch aus seinem Bureau hervor, preßte sich die rote Mütze auf den Kopf und trug langsam seinen dicken Bauch am Zuge entlang. Ein paar italienische Hühner, die vor dem kleinen, neuen Backsteingebäude umherpickten, stoben gackernd auseinander. Die beiden Schaffner traten zusammen und staunten meinen Hut und Überrock an, der ihnen vielleicht außergewöhnlich neumodisch vorkam. –
Kaum hab ich ein paar Schritte getan, da regt sich mein Lokalpatriotismus. Nun haben wir hier auch eine Bahn!…
Aber ein Wetter? Köstlich!
Da liegt das Nest. Die roten Dächer im Gartengrün den Berghang hinauf übereinander aufgestapelt, übereinander hinweglugend. Vögel drüber in der blauen, goldigen Luft. Die drei Kirchtürme, die hohen grauen Schloßtürme vom höchsten Gipfel herab und die kerzengeraden Rauchsäulen in der blendenden Sonne.
Alles genau so wie früher. Nur nach dem Bahnhof zu ein paar Bauplätze und ein paar neue Häuser. Nur da, ganz neu: ein paar längliche rote Backsteingebäude und ein weißblendender »Palast«. Ein Großhändler. Ein wirklicher, richtiger Großhändler. Ich lese das Firmenschild: H. Windesheim & Co. Glückauf! –
Und nun trat ich durch das Tor, durch das »damals« noch der gelbe Postkutschkasten abends zwischen den blühenden Fliederbüschen auf der staubgrauen Chaussee gemütlich hereinhumpelte. Wie schön der Postkutscher immer geblasen hatte, wenn wir so neben der alten Karre hersprangen!…
Da sind die Gartenmauern mit dem übernickenden Grün, und da ist der »Goldene Bär« und der »Schwarze Adler«. Herrgott! Fünfzehn Jahre? Wirklich fünfzehn Jahre?
Ich … Hm! Kann man sich hier nicht irgendwo ein paar Zigarren kaufen?…
So! Freilich: ländlich, schändlich! Aber … Ja! Warum man nur heutzutage so über den Tabak räsoniert?…
So! – Der schöne blaue Rauch! Und nun um Gottes willen nicht sentimental werden! Denn »das hat gar keinen Zweck«! –
Ich stolpere, mit schweifenden Blicken, rauchend über das bucklige Pflaster mitten über den Fahrweg. Immer weiter und weiter.
Wenn mir jetzt ein alter Freund, ein Jugendbekannter, ein ehemaliger Schulkamerad, nun biederer Schuster, Zimmermeister oder Schlosser, begegnete und mich fragte, was ich für ein »Metier ergriffen« hätte? Das Herz klopft mir ein wenig.
Hm! Peinlicher Gedanke! Wie sollte ich mich ihm, unbeschadet meiner Reputation, verständlich machen?
Nein, ich will ganz allein so ein Stündchen, sozusagen inkognito, hier umherbummeln, ganz mutterseelenallein, mir still alles ansehen und mich dann wieder fortschleichen, hinaus zum Bahnhof.
Ich lese die Firmenschilder. Ja, nun merke ich doch: die Generationen haben sich ein wenig verschoben. Es kann aber auch sein, daß ich viele Namen vergessen habe.
Ein paar Leute gehen an mir vorüber. Ob Bekannte darunter sind? Niemand redet mich an, nur fremde Gesichter.
Wie lächerlich klein die Häuser geworden sind! Richtig eingeschrumpft sind sie.
Ach, die kleinen Straßen! Hinauf und hinunter! Die Schwalben schießen zwitschernd an den grauen, gelben, weißen und blauen Häuserchen hin. Ein paar gelbflaumige Gänseküchelchen piepen auf dem Pflaster umher. Dort drüben sehen die weiten grünen Felder und Gärten in die Stadt herein; über die Dächer hinweg die blaue, sonnendunstige Ferne.
Ach, und so still! Wie still hier die Welt geblieben ist! Nur fernher rattert langsam, schläfrig ein Lastwagen. Unten schwatzen ein paar Nachbarn über die Gasse hinüber. Ich höre ganz deutlich, was sie sprechen; Wort für Wort.
Weiter. –
Hier haben wir Ball gespielt. Hier hab ich einmal einen Silbergroschen gefunden und ihn sträflich in Johannisbrot und Kirschen vergeudet. Hier haben wir gewohnt, und hier; und hier wurde ich geboren … Ach, ach, ach – In dem kleinen Häuschen da noch der alte Buchbinderladen mit der schön waschblau gestrichenen Tür. Hier habe ich mir Neuruppiner Bilderbogen und Bleistifte gekauft. Ich trete ein. Eine alte Frau. Ich kenne sie sofort wieder. Ordentlich Herzklopfen bekomm ich. Ich mache einen kleinen Einkauf. Sie kennt mich nicht mehr. Natürlich … Nein, anreden will ich sie nicht. Still weiter! –
Und nun den alten Marktplatz hinauf. Da, der mittelalterliche Rathausturm mit der blauen Sonnenuhr. Dort oben wohnt noch der Türmer, der die entsetzliche Brandglocke läutete, wenn Feuer ausgebrochen war. Der Türmer, der abends immer so schöne Choräle über die stillen roten Dächer beruhigend in den schönen Feierabend hineinblies. Die Falken schrillten dazwischen, und die Schwalben schossen in langen, weiten Bogen um das spitze Schieferdach des Turmes, auf dem die Abendsonne lag.
Hier auf dem Markt versammelten sich in ihren grünen Röcken und steifen Tschakos mit den schwarzen Hahnfederbüschen – nur die Musik hatte rote – die Stadtschützen, wenn draußen vor der Stadt im Schützengarten hinter dem alten Schloß Mannschießen war. Das dauerte immer acht Tage. Jeden Tag zogen sie hinaus, und es war ein schönes, aufregendes Fest.
Wie spät? Was! In einem kleinen Stündchen hab ich das ganze Nest durchstreift und stehe vor dem anderen Tor. Da ist die alte Grabenbrücke. Durch Brennesseln und Scherben krochen wir Jungens hindurch in ein enges altes Gewölbe, das wir unter einem Garten aufgestöbert hatten. Hinten konnten sich gerade noch ein paar Sonnenstrahlen durch eine vergitterte Luke zwängen, die ein bläuliches Dämmerlicht gaben. Wir machten hier Rauchversuche mit Pfennigzigarren, lasen grellbunt illustrierte Räuber- und Indianergeschichten und unternahmen, von ihnen begeistert, allerlei Raubzüge in die Gärten und Schotenfelder der Umgegend. –
Und jetzt steh ich draußen auf den grünen Bergen. Die Wolfsmilch blüht wie früher zwischen den Kalksteinen, und die frische Luft weht immer noch über die Gräserchen und Hungerblümchen, die sich zwischen dem Geröll hervorzwängen. Immer noch taumeln die weißen und gelben Schmetterlinge drüberhin, und unten im Tale fließt der Bach zwischen Wiesen und Gärten und stürzt über die brausenden Mühlwehre.
Und dort auf der Anhöhe das Schloß. Der Marterturm, der alte, riesige graue Wachtturm, die hohe Schloßkirche. Die dicken, ungeheuren, unverwüstlichen Wallmauern, zwischen denen Ebereschen und Vogelbeeren hervorbrechen. Weit, weit dehnen sie sich in die Runde. Tief der alte Wallgraben mit Gras und Gebüsch, hier und da voll Geröll und Mauerstücken. Die tiefen schwarzen Schießscharten. Die Brücke und das Tor mit den Wappen und Kruzifixen und den steinernen, knienden Rittern davor.
Da oben zwischen dem alten Mauerwerk kletterten und spielten wir umher. Hab ich keinen Bekannten, keinen Freund mehr hier? Nein, nicht einen einzigen. Nur Erinnerungen und ein paar Gräber. –
Und wieder streif ich durch das Nest, bis ich zu einem Gäßchen komme. Zwischen alten Scheunen und halbzerfallenen, gelbbraunen Lehmhütten mit verwitterten Strohdächern schlendere ich hinauf, auf die Friedhofskapelle zu. Oben im Dachstuhl, frei in der Frühlingsluft, die alte grünspanige Friedhofsglocke, umspielt von Sonnenschein und Schmetterlingen im Gebälk. Und unten davor die uralte mächtige Linde, die mit ihrem zerklüfteten Wipfel das Ziegeldach überragt. –
Jetzt bin ich oben. Rechts und links zweigt sich die Scheunengasse weiter, und rechts und links von der Kapelle aus auf der anderen Seite, lang, weit die hohe Friedhofsmauer.
Ich stehe vor der Kapelle. Unter den vier Bogenfenstern an den beiden Seiten des breiten Tores – »Eingang zur Ruhe« haben sie darüber gemalt – stehen in altfränkischer Schrift Sprüche eingegraben. Ich suche sie zu entziffern.
»Hier seynd viel dausend neingeschiegt
und warden auf das Jüngste Gericht«