Zweitens wollte Consuelo sich die Liebe und die Achtung der Familie gewinnen, bei der sie in ihrer Vereinsamung und ihrem Schmerz für den Augenblick eine Zuflucht fand, und sie schloss ganz richtig, dass man sie als bloße Musikerin, als Schülerin Porporas und Gesanglehrerin lieber aufnehmen würde, denn als Prima Donna, Theaterdame und berühmte Sängerin. Sie sah ein, dass sie, wenn ihre wirkliche Lage einmal verraten wäre, eine schwierige Rolle haben würde unter diesen schlichten und frommen Leuten, die wahrscheinlich, trotz der Empfehlungen Porporas, die Ankunft Consuelo’s, der Debütantin, des Wunders von San Samuel, nicht wenig verlegen und scheu gemacht hätte.
Wären aber auch diese beiden mächtigen Beweggründe nicht gewesen, so würde Consuelo dennoch das Bedürfnis gefühlt haben nichts zu sagen und niemanden den Glanz und das Elend ihrer Bestimmung merken zu lassen. Alles hing in ihrem Leben an einander, ihre Stärke und ihre Schwachheit, ihr Ruhm und ihre Liebe. Sie konnte nicht die kleinste Ecke des Schleiers lüften, ohne der Wunden ihrer Seele eine aufzudecken, und diese Wunden waren zu frisch, zu tief, als dass menschliche Hilfe ihr Linderung geben konnte. Sie fand im Gegenteil nur Erleichterung in dieser Art von Damm, den sie zwischen ihren schmerzlichen Erinnerungen und ihrer neuen Lebensweise aufgeführt hatte. Der Wechsel des Landes, der Umgebung, des Namens sollte sie mit einemmale in eine unbekannte Region versetzen, wo sie eine völlig andere Rolle spielend versuchen wollte, ein neues Wesen anzuziehen.
In dieser Verbannung aller Eitelkeiten, welche anderen Frauen Trost gegeben hätten, fand diese mutige Seele ihre Rettung. Allem Mitleid, allem Ruhm bei Menschen entsagend, fühlte sie sich von einer himmlischen Kraft getragen.
– Ich muss einen Teil meines Glückes wiederfinden, sprach sie zu sich; das Glück, das ich so lange genoss, das Glück die anderen zu lieben und von ihnen geliebt zu werden. Von dem Tage an, dass ich ihre Bewunderung suchte, haben sie mir ihre Liebe versagt, und die Ehren, die sie mir statt ihres Wohlwollens zollten, habe ich zu teuer erkauft. Nein! lieber wieder unbekannt und klein werden, um keinen Neider, keinen Undankbaren, keinen Feind auf der Welt zu haben! Süß ist das kleinste Zeichen von Mitgefühl und der größte Zoll von Bewunderung ist mit Bitterkeit gemischt. Wenn es stolze und starke Seelen gibt, denen Lob genügt, und denen Triumphe Trost gewähren, die meinige gehört zu diesen nicht, ich habe es nur zu grausam fühlen müssen. Ach! der Ruhm hat mir das Herz meines Geliebten entrissen; möge mir die Niedrigkeit zum wenigsten einige Freunde wiedergeben!
So hatte es Porpora nicht gemeint. Als er Consuelo von Venedig entfernte, als er sie den Gefahren und den Schmerzen ihrer Leidenschaft entführte, hatte er nichts gewollt, als ihr ein paar Rasttage schaffen, um sie dann wieder auf den Schauplatz der ehrgeizigen Kämpfe zurückzurufen und sie von Neuem in die Stürme des Künstlerlebens zu schleudern. Er kannte seinen Zögling schlecht. Er glaubte, dass sie mehr Weib, d. h. beweglicher wäre als sie war. Wenn der an sie in diesem Augenblicke dachte, so stellte er sie sich nicht ruhig vor, nicht liebevoll und nur mit den anderen beschäftigt, wie sie es zu sein schon wieder Kraft genug besaß. Er stellte sie sich vor in Tränen gebadet und von Gram verzehrt. Aber er dachte, dass doch bald eine große Verwandlung in ihr vor sich gehen und dass er sie wiederfinden würde geheilt von ihrer Liebe und brennend vor Verlangen, sich von Neuem in den Genuss ihrer Kraft und der Vorrechte ihres Genies zu setzen.
Das innere Gefühl, so rein und fromm, das Consuelo sich von ihrer Rolle in der Rudolstädtschen Familie geschaffen hatte, verbreitete von Stund an eine selige Ruhe über ihre Worte, ihre Handlungen und ihre Mienen. Wer sie zuvor gesehen hatte leuchtend von Liebe und Freude im Sonnenglanz Venedigs, würde sich nicht leicht denken können, wie sie nun auf einmal ruhig, liebevoll sein konnte mitten unter Unbekannten und im Schoße finsterer Wälder, mit dem Gefühl der hingewelkten Liebe ohne Hoffnung neuer Blüte. Ein gutes Herz aber findet da Kraft, wo ein hochmütiger Sinn nichts als Verzweiflung finden würde.
Consuelo war an diesem Abend schön, von einer Schönheit, welche sich noch nicht an ihr offenbart hatte. Es war jetzt nicht die Unaufgeschlossenheit einer bedeutenden Natur, welche noch ihrer selbst sich unbewusst ist und auf ihr Erwachen harrt; es war jetzt aber auch nicht das Hervorbrechen einer Kraft, die überraschend und entzückend sich entfesselt. Es war weder die verhüllte, unfassbare Schönheit der Scolare zingarella, noch die strahlende und siegreiche Schönheit der gekrönten Siegerin: es war der eindringende Liebreiz einer reinen und in sich geschlossenen Weiblichkeit, die sich fühlt und einzig sich bestimmen lässt durch ihren inneren heiligen Trieb.
Ihre alten Wirte, schlichte, liebreiche Menschen, bedurften keiner anderen Hilfe als ihres eigenen edelen Gefühls, um, dass ich so sage, den geheimnisvollen Duft zu atmen, den in ihre geistige Atmosphäre Consuelo’s englische Seele ergoss. Es tat ihnen wohl, sie anzusehen, vielleicht ohne dass sie sich Rechenschaft davon zu geben wussten, so innig wohl, dass sie sich wie neubelebt fühlten.
Auch Albert schien zum ersten Male seiner selbst ganz und in Freiheit froh zu werden. Er war zuvorkommend und liebevoll gegen alle Welt: gegen Consuelo war er es in den Grenzen der Schicklichkeit und er sprach mit ihr verschiedene Male so, dass man wohl sah, er habe nicht, wie man bisher geglaubt, den hohen Geist und klaren Verstand, den er von Natur besaß, von sich geworfen.
Der Freiherr schlief nicht ein, das Stiftsfräulein seufzte nicht ein einziges Mal, und Graf Christian, der gewohnt war, abends traurig unter der Last des Alters und des Kummers in seinen Sorgenstuhl zu sinken, blieb, den Rücken am Kamme, recht wie im Mittelpunkte seiner Familie, aufrecht stehen und nahm behaglich und fast launig an der Unterhaltung Teil, die bis um neun Uhr ohne zu stocken anhielt.
– Gott scheint unsere heißen Gebete erhört zu haben, sagte der Kaplan zu dem Grafen Christian und dem Stiftsfräulein, welche zuletzt im Saale blieben, nachdem der Freiherr und die jungen Leute sich zurückgezogen hatten. Graf Albert ist heut in sein dreißigstes Jahr getreten, und dieser festliche Tag, dem er und wir mit so ahnungsvoller Erwartung entgegengesehen, ist unbegreiflich ruhig und glücklich verflossen.
– Ja, danken wir Gott! sagte der alte Graf. Ich weiß nicht, ob das nur ein wohltätiger Traum ist, welchen er uns zuschickt, um uns einen Augenblick zu erquicken, aber ich habe heute den ganzen Tag und besonders heute Abend die Überzeugung gewonnen, dass mein Sohn für immer geheilt ist.
– Lieber Bruder, sagte das Stiftsfräulein, mit deiner Verzeihung, und auch mit