Tief war sein Schlaf. Da fühlte er sich plötzlich an Armen und Beinen von kleinen, harten Händen ergriffen; er glaubte zu träumen – aber schon fuhren ihm die Zweige ins Gesicht, und die Blätter schlugen ihm rauschend um die Ohren. Erschrocken starrte er hinab durch die schwingenden Äste auf die Erde und sah, wie Baghira mit gefletschten Zähnen an dem Baumstamm hochkletterte, während Balu die schlaftrunkene Dschungel mit lautem Gebrüll weckte. Die Bandar-log heulten triumphierend und eilten hinauf in die höchsten Kronen, wohin Baghira nicht zu folgten wagte. Von dort krähten sie hernieder: »Er hat uns bemerkt! Baghira hat uns beachtet! Alles Dschungelvolk bewundert uns nun ob unserer Schläue und Geschicklichkeit!« Dann machten sie sich auf die Flucht, und so eine Flucht der Affenvölker durch das Baumland ist einfach nicht zu beschreiben. Sie haben ihre regelrechten Straßen und Kreuzwege, gipfelauf und gipfelab, immer fünfzig bis hundert Fuß über der Erde, und auch bei Nacht können sie über die Hochwege wandern. Zwei der stärksten Affen griffen Mogli unter die Arme, und fort ging es in mächtigen Sprüngen über zwanzig Fuß breite Abgründe. Wären sie unbehindert gewesen, so hätten sie zweimal so schnell davoneilen können, doch das Gewicht des Knaben hielt sie zurück. Mogli schwindelte der Kopf, und dennoch genoß er unwillkürlich den rasenden Flug durch die Baumwipfel – er hatte bisher das Gefühl der Furcht nicht gekannt, als er aber jetzt die Erde tief unter sich liegen sah und als die Äste nach jedem Satze mit furchtbarer Gewalt schwankten und ausschlugen, da wurde ihm seltsam zumute, und das Herz pochte ihm, als wolle es aus der Brust herausspringen. Hinauf zur Baumkrone ging es, bis die dünnen Zweige sich krächzend bogen, dann warfen sich seine Begleiter in den leeren Raum unter ihnen und hingen im nächsten Augenblick an den stärkeren Zweigen des nächsten Baumes. Manchmal konnte Mogli meilen-und meilenweit die ruhig daliegende grüne Dschungel übersehen, als ob er mitten im Ozean auf dem höchsten Maste eines Schiffes säße, dann aber schlugen ihm wieder die Zweige ins Gesicht, und wieder war er mit seinen beiden Begleitern fast auf dem Boden angelangt. Springend, rutschend, bellend und heulend – so stürzte der ganze Stamm der Bandar-log vorwärts durch die Baumstraßen mit Mogli, ihrem Gefangenen.
Zuerst hatte er Angst, daß er fallen würde – dann wurde er zornig, war aber zu klug, um sich während dieser schwindelnden Flucht zu wehren. Schließlich begann er über seine Lage nachzudenken. Vor allen Dingen mußte er Balu und Baghira Nachricht senden, denn bei der ungeheuren Schnelligkeit der Flucht waren diese weit zurückgeblieben. Mogli sah zuerst zur Erde nieder, als ob er von dort Hilfe erwartete – aber Bäume, Sträucher, ganze Landschaften glitten wie im Fluge an seinen Augen vorüber, so daß er nichts Bestimmtes zu unterscheiden vermochte. Wie er dann aber aufblickte, sah er hoch oben im Äther Tschil, den Geier, der in der Luft schwebte und sich wiegte und Wache hielt über der Dschungel, lauernd auf den Tod der Geschöpfe da unten. Tschil bemerkte, daß die Affen etwas davontrugen. Ob es da etwas für ihn gab? Vor Überraschung stieß er einen langen Pfiff aus, als er sah, wie Mogli in die höchste Spitze einer Palme gezerrt wurde. Da tönte Moglis Hilferuf zu ihm auf: »Du und ich und ich und du, wir sind vom gleichen Blute!« Im nächsten Augenblick schlossen sich die dichten Zweige wie Meereswogen über den Flüchtlingen. Tschil schoß mit ein paar Schlägen der mächtigen Flügel vorwärts und stand über dem nächsten Baumwipfel, gerade als das kleine braune Gesicht wieder auftauchte.
»Halte meine Fährte!« rief Mogli ihm zu. »Berichte Balu vom Sionirudel und Baghira, dem Panther!«
»Und von wem kommt die Botschaft, Bruder?«
Tschil hatte Mogli noch nie gesehen, obgleich er natürlich viel von ihm gehört hatte.
»Ich bin Mogli, der Frosch. Menschenjunges nennt man mich. Folge meiner Fährte!«
Er gellte diese letzten Worte mitten in einem ungeheuren Sprunge durch den leeren Raum. Tschil nickte und flog auf und stieg, bis er nicht größer aussah als ein schwarzer Punkt. Dort hing er im Äther und beobachtete mit seinen scharfen Augen das Wogen der Bäume, in denen Moglis Begleiter dahinjagten.
»Weit geht ihre Reise nie«, lachte Tschil spöttisch. »Sie vollenden nie, was sie begannen! Immer greifen sie nach etwas Neuem, diese Bandar-log. Aber diesmal, scheint mir, werden sie sich die Pfoten verbrennen; denn mit Balu ist nicht zu spaßen, und Baghira kann mehr als Ziegen würgen, das weiß ich.«
So segelte er auf mächtigen Schwingen, die Fänge dicht an den Körper gezogen, und wartete ab.
Mittlerweile stand es schlimm mit Balu und Baghira. Sie rasten vor Wut und Kummer. Baghira kletterte wie niemals vorher; doch die dünnen Zweige brachen unter seiner Last, und er glitt zur Erde, die Krallen voller Borke.
»Warum hast du ihn nicht gewarnt, das Menschenjunge?!« brüllte er den armen Balu an, der immer noch hoffte, mit seinem plumpen Trabe die Affen einzuholen. »Warum ihn prügeln und halbtot schlagen, anstatt ihn beizeiten zu warnen!«
»Schnell! Schnell nur! Vielleicht … vielleicht erwischen wir sie noch«, keuchte Balu.
»Mit deinem Zotteltrab könntest du nicht einmal eine angeschweißte Kuh erwischen, Knabenprügler, wenn du noch eine Weile so fortwackelst, dann platzt dir am Ende der Bauch. Setze dich lieber hin und denke nach. Mache einen Plan! Hinterherlaufen hat keinen Sinn. Kann sein, sie lassen ihn fallen, wenn wir ihnen zu nahe kommen.«
»Urrula! Whua! Vielleicht sind sie jetzt schon seiner müde geworden und haben ihn zur Erde geworfen! Wer kann den Bandar-log trauen? Bedecke meinen Kopf mit toten Fledermäusen! Gib mir alte Knochen zu fressen! Rolle mich in die Waben der wilden Bienen, daß sie mich zu Tode stechen, und begrabe mich mit der Hyäne; denn ich bin der elendeste aller Bären! Urrula! Whua! O Mogli! Mogli! Warum habe ich dich nicht vor dem Affenvolke gewarnt, anstatt dir den Kopf zu zerschlagen? Ach, vielleicht habe ich ihm alles herausgeprügelt, was er gelernt hat, und nun weiß er nicht mehr die Meisterworte und kann sich nicht helfen in der Dschungel!«
Verzweifelt schlug sich Balu die Pranken gegen die Ohren, rollte hin und her und stöhnte jämmerlich.
»Ach was! Er hat mir noch vor kurzem alle Meistersprüche richtig hergesagt!« knurrte Baghira ungeduldig. »Balu, erinnere dich daran, was du dir selbst schuldig bist. Hast du denn alle Selbstachtung verloren? Was würde die Dschungel dazu sagen, wollte ich, der schwarze Panther, mich wie Ikki, das Stachelschwein, zusammenrollen und heulen?«
»Was schiert mich die Dschungel! Ach Mogli, mein Frosch … vielleicht ist er jetzt schon tot.«
»Mir ist nicht weiter bange um das Menschenjunge, sofern sie ihn nicht etwa rein zum Spaß fallen lassen oder ihn aus Langeweile töten, weil sie nichts Gescheiteres zu tun wissen. Mogli ist klug und gewandt, und vor allem hat er Augen, vor denen die Dschungelvölker zittern. Eins nur ist schlimm: Die Bandar-log haben ihn in ihrer Gewalt, und sie fürchten unsere Völker nicht, weil sie in den Bäumen leben.« Baghira leckte gedankenvoll eine Vorderpfote.
»Ach, ein Narr bin ich! Ein fetter, brauner, wurzelfressender Narr!« rief Balu und setzte sich aufrecht. »Wahr ist, was Hathi sagte, der wilde Elefant: ›Niemand ist ohne Feind‹; und sie, die Bandar-log, fürchten Kaa, die Riesenschlange! Kaa klettert so gut wie sie; er raubte des Nachts ihre Jungen. Beim bloßen Klange seines Namens erschauern sie. Komm – wir müssen zu Kaa!«
»Was wird er viel für uns tun. Er gehört nicht zu unserer Sippe, da er fußlos ist – und den bösen Blick hat er«, meinte Baghira.
»Sehr alt ist er und sehr verschlagen. Und vor allem hat er ewig Hunger«, antwortete Balu hoffnungsvoll. »Versprich ihm recht viele Ziegen.«
»Einen ganzen Monat lang liegt er und schläft, hat er sich einmal vollgefressen. Vielleicht hält er gerade jetzt seinen Schlaf. Aber selbst angenommen, daß er wach ist … meinst du nicht, er würde es am Ende vorziehen, sich seine Ziegen selbst zu würgen?« Baghira, der nur wenig von Kaa wußte, war mißtrauisch.
»In diesem Falle könnten zwei alte Jäger, wie wir, ihn vielleicht auf eine gute Fährte bringen.« Hier rieb Balu seine verblichene braune Schulter gegen den Panther, und beide machten sich auf den Weg zu Kaa, dem Felsenpython.
Sie fanden ihn auf einem warmen Hang in der Nachmittagssonne ausgestreckt liegen, sein neues schmuckes