Dann folgte er der Himalaja-Tibet-Straße, dem zehn Fuß breiten Pfade, der aus massigen Felsen gesprengt ist oder auf Balken über tausend Fuß tiefen Schluchten hängt – dem Pfade, der in feuchte, eingeschlossene Täler hinabtaucht, über kahle grasbewachsene Berghänge klettert, wo die Sonne wie ein Brennglas sticht, oder durch dunkle triefende Wälder sich windet, wo Baumfarne die Stämme von oben bis unten umhüllen und der Goldfasan sein Weibchen lockt.
Tibetanischen Hirten begegnete er mit Hunden und Schafherden, jedes Schaf mit einem Stückchen Borax auf dem Rücken, und wandernden Holzfällern und Lamas aus Tibet, in Mäntel und Wolldecken gehüllt, die nach Indien zur Pilgerfahrt zogen, und Boten kleiner, einsamer Gebirgsstaaten, die auf ihren scheckigen Ponies hastig vorbeijagten, oder der bunten Kavalkade eines Radschas, der auf einen Besuch unterwegs war; oder er sah einen ganzen kristallklaren Tag lang nichts als etwa einen schwarzen Bären, der unten im Tal brummte und wühlte.
Zu Beginn seiner Wanderung tönte noch das Getöse der Welt in seinen Ohren, so wie der Donner im Tunnel nachhallt, wenn ein Zug hindurchgefahren ist. Als er aber den Muttieaniepaß hinter sich hatte, war das alles verklungen – und Purun Baghat war allein mit sich selbst, wandernd, staunend, sinnend, die Augen am Boden, die Gedanken in den Wolken.
Eines Abends erreichte er nach zweitägigem Aufstieg den höchsten Paß, den er bisher erklommen hatte, und stand nun plötzlich vor einer Kette von Schneegipfeln, die wie ein Gürtel den Horizont umschlossen – Berge von fünfzehn» bis zwanzigtausend Fuß Höhe schienen so nahe, als könnte man sie mit einem Steinwurf erreichen, und waren doch fünfzig bis sechzig Meilen entfernt. Die Paßhöhe war bedeckt mit dunklem dichtem Wald – Deoda, Walnuß, wilder Kirsche, wilder Olive und wilden Birnbäumen –, aber zumeist mit Deoda, das ist die Himalaja-Zeder; und im Schatten der Deodazedern stand ein verlassener Schrein der Kali – das ist Durga oder Sitala, die manchmal gegen die Blattern angerufen wird.
Purun Daß fegte den Steinboden sauber, lächelte der grinsenden Gottheit zu, baute sich im Hintergründe des Schreins eine kleine Feuerstelle aus Lehm, breitete sein Antilopenfell über ein Lager von frischen Fichtenreisern, schob den Bairagi – die Stütze mit Messinggriff – in die Achselhöhle und setzte sich nieder, um zu ruhen.
Unmittelbar zu seinen Füßen fiel die Bergwand jäh ab, fünfzehnhundert Fuß tief bis zu einem kleinen Dorf mit Häusern aus Steinmauern und gestampften Erddächern, die am steilen Hange klebten. Rund um das Dorf lagen in winzige Terrassen geteilte Felder, die wie eine Schürze aus Flickwerk die Knie des Berges bedeckten, und Kühe, nicht größer als Käfer, weideten zwischen den glatten Steinen der kreisförmigen Dreschtennen. Beim Blick über das Tal hinweg täuschte man sich über die Größenverhältnisse, und zuerst war nicht gleich zu erkennen, daß scheinbar niedriges Gestrüpp auf der Bergseite gegenüber in Wahrheit ein Wald mit fünfhundert Fuß hohen Fichten war. Purun Baghat sah einen Adler über dem gewaltigen Talgrund schweben, aber der große Vogel schrumpfte zu einem Punkte ein, ehe er noch halb hinüber war. Einzelne Wolkenfetzen strichen an den Talwänden dahin, hafteten wohl an einem Bergvorsprung oder trieben hoch und verwehten auf der Höhe des Passes. Und Purun Baghat sprach: »Hier werde ich Frieden finden.«
Nun bedeutet einem Bergbewohner einige hundert Fuß Auf-und Abstieg herzlich wenig; und sobald die Dörfler den Rauch in dem verlassenen Schrein bemerkt hatten, stieg der Dorfpriester die Hügelterrassen hinauf, um den Fremdling zu begrüßen. Als er Purun Baghats Blick begegnete – dem Blick eines Mannes, der gewohnt war, Tausenden zu befehlen –, neigte er sich zur Erde, nahm schweigend die Bettelschale, stieg ins Dorf zurück und sagte: »Endlich haben wir einen Heiligen bei uns. Nie zuvor sah ich einen solchen Mann. Vom Flachland ist er, aber von heller Farbe – ein Brahmane über Brahmanen.«
»Glaubt ihr, daß er bleiben wird?« fragten sogleich die Frauen des Dorfes, und jede beeilte sich, schmackhafte Speisen für den Baghat zu bereiten.
Gebirgskost ist sehr einfach; aber mit Buchweizen, Mais und Reis und rotem Pfeffer, Fischen aus dem Flüßchen im Tal und Honig aus den röhrenartigen Bienenstöcken in den Felskaminen, mit getrockneten Aprikosen und Gelbwurz, wildem Ingwer und Haferkuchen – mit all dem kann eine fromme Frau schon etwas Gutes zubereiten; und so war die Schale wohlgefüllt, die der Priester dem Baghat hinauftrug.
Würde er bleiben? fragte der Priester, wünsche er einen Chela – einen Schüler –, der für ihn bettle? Habe er eine Decke gegen die Kälte? Wäre das Essen gut gewesen? Purun Baghat aß und dankte dem Spender. Er gedenke zu bleiben. Genug wäre das, sagte der Priester; möge die Bettelschale immer vor dem Schrein stehen, in der kleinen Höhlung zwischen den beiden knorrigen Wurzeln, so würde sie täglich für den Baghat gefüllt werden. Denn das Dorf sei geehrt, wenn so ein Mann – scheu blickte er zu dem Baghat auf – wenn so ein Mann unter seinen Bewohnern weile.
An diesem Tage endete die Wanderschaft des Purun Baghat. Er hatte den Platz gefunden, der ihm bestimmt war – allwo Schweigen war und Weite. Von nun an stand für ihn die Zeit still; und er saß am Eingang des Schreins und konnte nicht sagen, ob er lebte oder tot war, ob ein Mensch und Herr seiner Glieder oder ein Teil der Berge, der Wolken, des Regens und des Sonnenscheins. Leise wiederholte er einen Namen hundert-und hundertmal, und allmählich ward ihm, als ob bei jeder Wiederholung er sich mehr und mehr von seinem Körper löse und aufwärts schwebe, bis an das Tor einer machtvollen Offenbarung; aber immer gerade, wenn das Tor sich öffnete, zog ihn sein Körper niederwärts, und er erkannte mit Schmerz, daß er wieder eingeschlossen war in Fleisch und Bein von Purun Baghat.
Jeden Morgen stellte man die gefüllte Bettelschale schweigend in die Gabel der Wurzeln vor dem Schrein. Mitunter trug der Priester sie hinauf, manchmal ein Händler von Ladakh, der im Dorf übernachtet hatte und sich Verdienst erwerben wollte; aber für gewöhnlich kam die Frau, die das Essen über Nacht bereitet hatte, und kaum hörbar murmelte sie etwa: »Sprich für mich vor den Göttern, Baghat. Sprich für die und die, das Weib des soundso!« Dann und wann wurde wohl auch einem beherzten Kinde die Ehre zuteil; und Purun Baghat hörte, wie es hastig die Schale niederstellte und dann eilig zurücklief, so schnell es seine kleinen Beine tragen konnten. Aber niemals kam der Baghat in das Dorf hinunter. Es lag wie ein Bild zu seinen Füßen ausgebreitet. Er sah die abendlichen Versammlungen auf dem Rund der Dreschtennen, denn das war der einzige ebene Grund, sah das herrliche leuchtende Grün vom jungen Reis, das Indigoblau der Maisblüte, die dunklen Flecken der Buchweizensaat und zu seiner Zeit das Purpurblühen des Amarant, dessen winzige Samen zur Fastenzeit, da weder Korn noch Hülsenfrucht genossen werden, die vom Gesetz erlaubte Nahrung für den gläubigen Hindu geben.
Um die Jahreswende lagen die Maiskolben zum Trocknen auf den Dächern und ließen sie wie Flächen von reinstem Gold erscheinen. Imkern und Ernten, Reissäen und -aushülsen geschah vor seinen Augen dort unten auf den vielflächigen Feldern, und er dachte an das alles – dachte daran, wohin am Ende alles führen würde.
Sogar in dem bevölkerten Indien kann ein Mann nicht den ganzen Tag dasitzen, ohne daß Getier über ihn hinwegläuft, als wäre er ein Felsblock. In dieser Wildnis aber kamen die Tiere, die Kalis Schrein kannten, sehr bald wieder zurück, um sich den Eindringling anzusehen. Die Langurs, die großen graubärtigen Affen des Himalaja, waren natürlich die ersten, denn sie brannten vor Neugier.
Sie warfen die Bettelschale um, rollten sie über den Steinboden, versuchten ihre Zähne an dem Messinggriff des Bettelstabes und schnitten Fratzen vor dem Antilopenfell; und darauf entschieden sie, daß der so unbeweglich verharrende Mensch harmlos war. Am Abend kamen sie aus den Fichten heruntergeklettert, bettelten mit ausgestreckten Händen um etwas Eßbares und schwangen sich dann in anmutigem Bogen wieder in die Wipfel. Sie liebten die Wärme des Feuers und drängten sich so dicht darum, daß Purun Baghat sie beiseite schieben mußte, um Holz aufzulegen; und am Morgen fand er oft einen zottigen Affen mit sich unter der Decke liegen. Während des ganzen Tages saß der eine oder andere des Stammes an seiner Seite, starrte nach den fernen Schneegipfeln, surrte leise und sah unendlich weise und kummervoll aus. Nach den Affen kam der Barasingh, der große Hirsch, der unserm Edelhirsch gleicht, aber weit stärker ist. Er gedachte, den Bast