In einem Augenblick lag sie noch auf dem Bett, im nächsten stand sie in dem gewaltigen Studierzimmer, das Jules Verne ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Die Tür war geöffnet, auf dem Gang lärmten allerlei Schüler herum. Dank eines durchdachten Lehrplans von Annora und den übrigen neuen Lehrern sowie der Hilfe von Jules hatte die Traumakademie innerhalb weniger Tage ihre Arbeit aufnehmen können.
Der Unterricht ging also weiter, und nicht nur das: Er konnte sogar in ausgestalteten Traumkulissen vermittelt werden.
»Erster.« Alex erschien neben ihr.
Kurz darauf folgte Artus.
Während Jen sich wieder in die magische Schriftrolle vertiefte, schritt Alex mit verschränkten Armen die Regalreihen ab. Artus versuchte sich daran, das richtige Buch mit einem Aufrufzauber herbeizuholen, doch nichts hatte Erfolg. Obgleich sie bereits seit dem Tag, an dem Jules Verne seinen Weg ins Castillo gefunden hatte, hier recherchierten, waren sie keinen Schritt weitergekommen.
»Ich kann noch immer nicht glauben, was sie alles getan hat«, sinnierte Alex irgendwann, das Kinn auf der rechten Handfläche abgestützt.
»Chloe ist nicht sie selbst.« Die Worte waren so oft gesagt worden, dass sie nur noch hohl und leer klangen.
»Wenn wir einen Weg finden, eurer Freundin zu helfen, können wir das bei allen tun«, führte Artus an. »Egal, wie lange es dauert.«
Sie vertieften sich wieder in die Schriften.
Das Stimmengewirr auf dem Gang ebbte ab, der Unterricht begann.
Jen war gerade in eine interessante Ausführung über magisches Blut abgetaucht, als ihr Instinkt sie aufblicken ließ. »Alex.«
»Hm?« Auch er sah auf.
Vor ihnen stand ein Mann in den Dreißigern. Er besaß dunkle, wettergegerbte Haut, ein ebenmäßiges Antlitz und definierte Muskeln. Letzteres war vor allem dadurch zu erkennen, dass er nur eine Lederhose trug. Sein schwarzes Haar fiel gewellt auf die Schultern, bunte Perlen waren darin eingeflochten.
»Wieso tut ihr nichts?«
Artus bemerkte den Neuankömmling erst jetzt und sprang schützend zu Jen – wofür sie ihm gerne einen Kraftschlag verpasst hätte. »Wer bist du?!«
»Chloe leidet«, flüsterte der Mann. »Wieso tut ihr nichts?«
Fassungslos starrte Jen ihn an, das ebene Gesicht, die Augen von unterschiedlicher Farbe. »Ataciaru.«
»Endlich könnt ihr mich hören.« Seine Stimme war sanft, doch das Raubtier schwang unterschwellig mit. »Nils kann mich hören, aber nicht gänzlich verstehen.«
»Wir wollen Chloe helfen, wissen aber nicht, wie«, sagte Alex. »Der Pakt … Merlins Pakt. Weißt du, wie man ihn bricht?«
»Es ist ein starkes Band, ein dunkles Band, aber nicht unzerstörbar. Ihr habt den Weg längst beschritten.«
»Mach hier jetzt keinen auf Orakel«, verlangte Alex. »Hilf uns, Chloe zu helfen.«
»Um den Pakt zu brechen, muss sie die Entscheidung alleine treffen und stark genug dafür sein. Ihr müsst sie zurückbringen, zu dem Zeitpunkt der Wahl.«
Jen ballte frustriert die Hände. »Wir wissen nicht, wo H. G. Wells ist. Und ohne Zeitmaschine …«
Ataciaru schüttelte den Kopf, was Jen zum Verstummen brachte. »Ihr müsst Chloe zurückbringen.«
Neben Jen atmete Alex scharf ein. »Wesley. Wesley ist der Schlüssel.«
Ataciaru nickte. »Zurückgebracht zur Wahl, kann sie erneut die Entscheidung treffen. Ihr braucht den Mann, der die Seele zurückschicken kann, und ein Messer, geschmiedet aus Magie, um Gut und Böse zu teilen.«
Ein Rauschen war zu vernehmen. Jen schaute in Richtung der Regalreihen und sah ein Buch, das herbeigeschwebt kam, auf dem Tisch landete und aufschlug.
»Ihr habt nur diesen einen Versuch. Am Schluss steht Endgültigkeit. Chloe wird sich für eine Seite entscheiden und es kann niemals rückgängig gemacht werden. Kein Zauber dieser oder einer anderen Welt wäre stark genug. Bedenkt das. Wenn ihr versagt, verliert ihr Chloe für immer.« Eine Träne löste sich aus Ataciarus Gesicht. »Ich kann nur zu den Ahnen flehen, dass ihr der Rückweg gelingt. Sie schlug den falschen Pfad aus Liebe ein, vielleicht ist es auch Liebe, die sie zurückführt. Zu euch.« Sein Körper verblasste. »Und zu mir.«
Ataciaru war verschwunden.
Jen eilte zu dem Buch und überflog die Seiten.
»Und?« Alex trat neben sie.
»Es könnte funktionieren.« Jen erwiderte seinen Blick. »Oder endgültig scheitern.«
Dicht geschriebene Worte zeigten ihnen den Weg, um Chloe zu helfen.
Oder sie für immer zu verlieren.
Und du bist sicher, dass sie schläft?« Misstrauisch betrachtete Alex die bewusstlose Chloe.
»Glaub mir, ich lasse mich nicht noch einmal aus dem Hinterhalt angreifen.« Max ließ die Freundin neben sich schweben.
Gemeinsam mit Kyra begaben sie sich zu einem Punkt in Sichtweite der Zuflucht. Vor ihnen lag eine weite, nur spärlich bewachsene Ebene, die in eine tiefe Schlucht überging. Die vertrocknete Erde wies Risse auf, die sich wie Spinnennetze verästelnd ausbreiteten. Nur hier und da gab es einsame Grasbüschel.
Jen und Wesley erwarteten sie bereits, neben einem magischen Kreis, der in die Erde gezogen worden war. Die Linien hatten sie mit flüssigem Himmelsglas ausgegossen, Bernstein zu Zeichen geformt. Im Abstand weniger Zentimeter standen Phiolen auf dem Glas, die farbige Flüssigkeiten enthielten.
»Ich habe schon lange nicht mehr einen solch komplexen Kreis erschaffen«, bemerkte Jen, in der Stimme eine gehörige Portion Stolz, der jedoch sofort von Skepsis abgelöst wurde. »Hoffentlich tun wir das Richtige.«
»Ich fasse also zusammen«, Wesley trat einen Schritt nach vorne und betrachtete eingehend den Kreis: »Ich soll Chloe gedanklich zurückführen, woraufhin der Kreis sie in ihrer Erinnerung aufsplittet in den Teil vor dem Pakt und den Teil danach.«
»Genau wie es bei dir geschehen ist«, bestätige Max. »Wir beobachten das Ganze und versuchen, die alte Chloe zu stärken. Am Ende wird sich eine von beiden durchsetzen und die andere auslöschen.«
Kyra ging in die Knie und betrachtete die schlafende Magierin. »Ich habe die echte Chloe nie kennengelernt. Ihr müsst sie sehr lieben, wenn ihr all das auf euch nehmt.«
»Wir lassen niemanden zurück. In diesem Kampf sind schon zu viele gestorben.« Max wirkte bei den Worten emotionslos, doch in seinen Augen glitzerte es.
Alex musste nicht lange darüber nachdenken, wen er meinte. Kevin war noch immer dabei, den Tod von Chris zu verarbeiten, und tausend winzige Details im Alltag ließen die Wunde auch in Alex wieder und wieder aufbrechen. Manchmal, wenn Jen schlief, trat er ans Fenster, betrachtete den Lebenswald hinter der Zuflucht und erinnerte sich an gemeinsame Erlebnisse. Der Schmerz war ein täglicher Begleiter.
»Ihr müsst eines wissen«, begann Wesley, »Dieses Ritual nutzt zwar meine besonderen Fähigkeiten, doch es übernimmt die Kontrolle. Ich kann bestimmte Schlüsselelemente ansteuern, lenkend eingreifen, doch den Zauber nicht mehr unterbrechen.«
»Also kein Aufschub«, schloss Alex.
Wesley nickte in Richtung der Zuflucht. »Das meine ich nicht. Wir wissen noch nicht, wann der nächste Sprung erfolgt. Egal wie das hier ausgeht, wir müssen in Betracht ziehen, dass Merlin es irgendwann bemerkt. Das birgt die Gefahr, dass die anderen verschwinden, bevor wir fertig sind, oder unser freundlicher Zauberer hier auftaucht. Wir müssen auf beides vorbereitet sein.«
»Bevor wir beginnen, steht also ein Gespräch mit von Thunebeck an.« Jen verdrehte die