Die Kreuzzüge. Martin Kaufhold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Kaufhold
Издательство: Bookwire
Серия: marixwissen
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783843802338
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der frühen Neuzeit. Die Kreuzzüge lehren die Kraft und die Problematik einer religiösen Begeisterung, die sich sehr weltliche Ziele steckte. Religiöse Begeisterung kommt in allen Epochen vor, und der religiöse Enthusiasmus des Mittelalters hat sich noch in vielen anderen Formen als in der militärischen der Kreuzzüge gezeigt. Die Kreuzzüge, deren Vorstellung noch immer die historische Imagination in widersprüchlichster Form belebt, erreichten ihre Höhepunkte innerhalb eines Jahrhunderts. Keine hundert Jahre lagen zwischen der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer im Juli 1099 und dem Verlust der Stadt im Oktober 1187, zwischen dem Aufbruch zum ersten Kreuzzug und dem wohl berühmtesten Kreuzzug, an dem sich Kaiser Friedrich Barbarossa, König Philipp von Frankreich und der englische König Richard Löwenherz beteiligten. Diese Phase hat unser Bild von den Kreuzzügen in besonderer Weise geprägt. Es war die große Zeit der Ritter, der antreibenden, eindrucksvollen Gestalten dieser Geschichte. Es ist eine begrenzte Geschichte, denn die Schlagkraft dieser Ritter wich im späteren Mittelalter allmählich moderneren Techniken des Kampfes. Dieser Bedeutungsverlust spiegelt sich in der Geschichte der Kreuzzüge.

      Der Rahmen der hier vorgestellten Skizze der Kreuzzugsgeschichte wird durch die historische Kräfteentwicklung gesetzt, und sie beginnt mit der dynamischen Aufbruchsituation des 11. Jahrhunderts. Doch bevor wir uns dem westlichen Europa um die Mitte des 11. Jahrhunderts zuwenden, ist noch eine Klarstellung erforderlich. Mit guten Gründen könnte man den Anspruch formulieren, dass eine Geschichte der Kreuzzüge auch die historische Entwicklung im Byzantinischen Reich und im Nahen Osten berücksichtigen sollte. Immerhin zogen die Kreuzritter durch diese Reiche, und sie errichteten in deren Gebieten ihre Herrschaften. Dennoch nimmt dieser kleine Band in erster Linie die Perspektive des westlichen Europa ein. Das bedeutet nicht etwa die Perspektive der Kreuzfahrer. Aber ihre Handlungen stehen im Vordergrund. Eine Beschränkung ist nötig, und in diesem Falle sollte man sich auf einen Stoff konzentrieren, von dem man im Laufe der eigenen Arbeit eine Vorstellung gewonnen hat. Die Kreuzzüge werden hier vor allem als ein west- und mitteleuropäisches Phänomen behandelt.

      Wir werden im Verlauf dieses Bandes darauf zu sprechen kommen, dass die Kreuzzüge zwar durch den Papst ausgerufen wurden (und diese Initiative des Papstes ist zu einem wichtigen Bestandteil der meisten Kreuzzugsdefinitionen geworden), dass der Papst aber eine andere Reaktion auf seinen Aufruf zum ersten Kreuzzug erfuhr, als er erwartet hatte. Die Reaktion der Zuhörer seines ersten Aufrufs und auch der Zuhörer seiner späteren Predigten fiel erheblich heftiger aus, als Urban II. dies erwartet hatte. Dies ist der historisch eigentlich interessante Vorgang, und er wird durch die Betonung der päpstlichen Rolle beim Zustandekommen des Kreuzzugs etwas überdeckt. Die Reaktion war Ausdruck einer dynamischen Spannung, die viele Menschen in Europa im späten 11. Jahrhundert erfasst hatte. Es war eine Spannung, die zentrale Lebensbereiche ergriffen hatte, und die zeigte, dass sich die lateinische Christenheit in einer Aufbruchsphase befand.

      DIE SOZIALE DYNAMIK DES 11. JAHRHUNDERTS

      Der große französische Mediävist Marc Bloch, dessen Buch »Die Feudalgesellschaft« von 1939 ein Klassiker der Sozialgeschichtschreibung des Mittelalters ist, hat für die Zeit um 1050 von einem »take-off« in Europa gesprochen. Es begänne eine Zeit, die er die »zweite Feudalzeit« nannte, charakterisiert durch den »Landesausbau an den Grenzen der westlichen Welt, auf den iberischen Hochflächen und in der großen Tiefebene jenseits der Elbe. Selbst im Innern der alten Landschaften sind die Wälder und Einöden vom Pflug angefressen worden, auf den ausgerodeten Lichtungen griffen dicht bei Bäumen und Gebüsch ganz neue Dörfer nach dem jungfräulichen Boden; andernorts ging rings um die seit ewigen Zeiten bewohnten Landschaften die Vergrößerung des Ackerbodens unter dem unaufhaltsamen Druck der Rodenden vor sich.« Was Marc Bloch beschrieb und dann analysierte, ist ein deutlicher Hinweis auf eine zunehmende Bevölkerung. Mehr Menschen brauchten mehr Platz, ihre Siedlungen wurden größer, sie nahmen zu und rückten enger zusammen. Alte Straßen wurden wieder ausgebaut. Das ist es, was wir im Rückblick, gestützt durch die Erkenntnisse der Archäologen und Sprachwissenschaftler, erkennen können. Dies war eine Zeit ohne Grundbücher, ohne Geburts- und ohne Taufregister. Bevölkerungszahlen und das Wachstum der Bevölkerung können nur aus solchen äußeren Anzeichen wie dem Landesausbau erschlossen werden. Landesausbau bedeutet in Mitteleuropa Rodung von Wald. Der Wald war das beherrschende Element. Wohin man sah, sah man Bäume, und wenn man nicht aufpasste und die Felder rechtzeitig von jungen Schösslingen befreite, holte sich der Wald die gerodeten Flächen zurück. Die Ausweitung der Rodung lässt sich durch Siedlungsüberreste und durch Siedlungsnamen ermessen. Siedlungen und Dörfer, die damals entstanden, haben Namen, die ähnlich gebildet wurden, und die etwa auf -rode, -hagen, oder -hausen endeten. Die Rekonstruktion ist nicht einfach. Zahlen zu nennen ist besonders schwer. Man geht davon aus, dass um die Mitte des 11. Jahrhunderts in Europa ca. 46. Mio Menschen lebten. Bis zum 13. Jahrhundert, also etwa in der Zeit, als die Kreuzzüge nach Jerusalem zu Ende gingen, wurden es ungefähr 60 Millionen. Hier geht es nicht um einzelne Millionen, sondern um Tendenzen. Mehr ist nicht möglich. Die Landwirtschaft war die vorherrschende Wirtschaftsform, und sie blieb es. Das ganze Mittelalter war eine agrarische Zeit. Aber der Handel nahm zu, und er wandelte seinen Charakter allmählich. Nach dem Untergang des Römischen Reiches war der Handel im frühen Mittelalter überwiegend ein Handel mit Luxusgütern gewesen, die an Höfen von wenigen Fernkaufleuten umgesetzt wurden. Europa war ein primitiver Wirtschaftsraum, der kaum Waren exportierte. Das änderte sich.

      Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts exportierte man Tücher aus Flandern bis nach Nowgorod in Russland. Es war ein langsamer Wandel. Die Geldwirtschaft spielte nur eine geringe Rolle. Die einzige reale Währung, über die man verfügte, war der Pfennig, eine stark regional geprägte Münze. Karl der Große hatte den Pfennig im Rahmen einer Münzreform normiert. Bei dieser Reform hatte man ein Pfund Silber in 240 Pfennige oder Denare unterteilt. Allerdings wurden die Münzen in einer Vielzahl von Münzstätten geprägt und es gab keine zentrale Kontrolle des Silbergehaltes. Die meisten Münzen hatten nur eine regionale Verbreitung. So entwickelte sich die Inflation mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, wenn die Münzer je nach dem Bedarf ihrer Herren den Silbergehalt der Pfennige weiter reduzierten.

      Es gab im hohen Mittelalter nur ein unterentwickeltes Münzsystem, und wir müssen uns die Anfänge eines weiter gespannten Handels noch sehr einfach vorstellen. Mit der Veränderung der gehandelten Waren von Luxusgütern zu Gebrauchsgütern wie Tuchen, aber auch Fellen, Waffen, Wachs, Alkohol und später Getreide wurde die Frage des Transportes zu einem dringlicheren Thema. Auch im Mittelalter war der Transport auf dem Wasserweg sehr viel günstiger – und häufig auch sicherer als der Transport über Land. Der Handel ging über Flüsse und Meere. Auch die Kreuzritter reisten später bevorzugt mit Schiffen in das Heilige Land. Das Mittelmeer war seit der Antike ein klassischer Wirtschaftsraum, der sich seit dem 11. Jahrhundert deutlich belebte.

      Der Handel vermochte allmählich manche Lücken zu füllen. So wuchs im nördlichen Europa kaum Wein. In einer christlichen Kultur, die es seit dem Ende des ersten Jahrtausends auch im Norden gab, war der Wein unverzichtbar, nicht nur in der Liturgie. Allmählich konnte man ihn importieren. Die Handelsnetze erstreckten sich von Island bis in das Mittelmeer. Noch wurden keine größeren Warenmengen gehandelt, aber um die Mitte des 11. Jahrhunderts bestanden weit gespannte Kontakte, die sich verstärken ließen. Zwei ganz unterschiedliche Ereignisse, die zunächst kaum etwas miteinander zu tun hatten, geben einen Hinweis auf die Verflechtung und das Potenzial des größeren Bildes, das Europa in der Mitte des 11. Jahrhunderts bot. Um das Jahr 1050 verließ der Isländer Isleif seine Insel, um auf dem Kontinent zum Bischof geweiht zu werden. Er reiste zum Kaiser und soll auch nach Rom gelangt sein, bevor er schließlich nach Island zurückkehrte, um dort als erster Bischof Islands sein Amt anzutreten. Isleif kam aus dem hohen Norden nach Rom, um dort dem Papst seine Aufwartung zu machen. Nur wenige Jahre später, im Jahr 1059, verlieh der Papst dem Normannen Robert Guiskard die Rechte eines Herzogs von Apulien, Kalabrien und Sizilien – wobei Robert Sizilien noch erobern musste. Island und Sizilien bezeichneten in etwa die Grenzen Europas im Norden und im Süden, und ein Zusammenhang ist zunächst nicht erkennbar. Tatsächlich aber waren sowohl die Bischofsweihe Isleifs, als auch die Belehnung des Normannen Robert durch den Papst die Fortführung einer Entwicklung, die gemeinsame Ursprünge hatte, und die nun ein Stadium erreicht hatte, in dem die Menschen nach neuen Herausforderungen Ausschau