Wie soll ich das ertragen? Wie kann ich für immer hierbleiben, wenn ich so behandelt werde? Aber sosehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie fand kein Schlupfloch und kein Zauberwort, um die unsichtbaren Barrieren zwischen ihr und der Freiheit zu überwinden.
Dies alles war die Schuld der Herzogin. Trotzdem quälte sich Sorilda mit Selbstvorwürfen, weil sie es versäumt hatte, mit Onkel Edmund noch vor seiner Hochzeit über ihre Zukunft zu sprechen. Andererseits hatte sie sich nicht einmal in ihren wildesten Träumen vorgestellt, daß ein so alter Mann mit festgesetzten Gewohnheiten plötzlich ein neues Leben mit einer jungen Frau beginnen würde.
Warum Iris ihn geheiratet hatte, erkannte Sorilda deutlich. Immer wieder beobachtete sie, wie die Stieftante sich bemühte, die Aufmerksamkeit des Herzogs zu fesseln und ihn zum willigen Sklaven ihrer Schönheit zu machen. Manchmal ließ Iris die Maske fallen, und Sorilda sah ihr an, daß der wesentlich ältere Ehemann sie grenzenlos langweilte oder ihre Ungeduld erregte. Nicht einmal der Rang einer Herzogin konnte sie für den Verlust der Bewunderer entschädigen, die sie früher umschwirrt hatten.
Sorilda war sich nicht sicher, wann sie zum ersten Mal den Verdacht geschöpft hatte, daß ihre Stieftante dem Grafen von Winsford ein ganz besonderes Interesse entgegenbrachte. Vielleicht hatte sie ein ungewöhnliches Aufflackern in den hellblauen Augen bemerkt, wenn er erwähnt wurde, und eine plötzliche Wärme in der Stimme, die kalt und gleichgültig oder sogar bissig klang, wann immer die Herzogin mit einer anderen Frau sprach. Woran es auch liegen mochte - Sorilda begann in Iris’ Gesicht nach Anzeichen menschlicher Regungen zu forschen, sobald der Name des Grafen fiel.
Als sie der Herzogin durch den Korridor folgte, erkundigte sie sich: »Wirst du Winsford schreiben und ihm zur Verleihung des Hosenbandordens gratulieren?«
Sie konnte Iris’ Gesicht nicht sehen, spürte aber, daß diese Idee Anklang fand.
Es dauerte eine Weile, bis die Herzogin antwortete: »Ja, das wäre vermutlich angebracht. Ist er hier oder in London?«
»Hier, in Winsford Park.«
»Woher weißt du das?« fragte Iris in scharfem Ton.
»Die Reitknechte haben gestern über ihn gesprochen und gesagt, er habe mehrere Pferde bei Tattersall gekauft und hierhergebracht.«
Sorilda bezweifelte nicht, daß die Herzogin genauestens über den Verbleib des Grafen informiert war.
»Dann müssen wir ihn zum Dinner einladen!« rief Iris aus. »Eine kleine Party wäre wundervoll! Ich hoffe nur, dein Onkel wird nicht unentwegt über den Kristallpalast schimpfen.«
Sie stiegen die Treppe hinauf, und die Herzogin ging in ihr Boudoir voraus, das an ihr Schlafzimmer grenzte.
Der Duft von Blumen, die aus dem Treibhaus im ummauerten Garten stammten, erfüllte den Raum, vermischt mit dem Aroma eines exotischen französischen Parfüms, das Iris auf Schritt und Tritt begleitete.
»Laß mich mal überlegen . . .«
Die Herzogin trat an ihren Sekretär, der vor einem Fenster stand.
»Ich nehme an, der Graf wird nicht allzu lange auf dem Land bleiben. Deshalb werde ich einen Reitknecht mit meiner Einladung zu ihm schicken. Ich will sie sofort schreiben, dann kannst du sie zum Stall hinunterbringen und Huxley sagen, daß sie unverzüglich in Winsford Park abgegeben werden muß.«
Sorilda wartete. Sie wußte, daß ihr der Brief nur deshalb anvertraut werden sollte, damit ihr Onkel nichts von der Dinnerparty erfuhr, ehe es zu spät für eine Absage sein würde.
Während die Herzogin schrieb, sah sich das junge Mädchen im Boudoir um und stellte wieder einmal fest, daß Iris in diesem Raum die schönsten und kostbarsten Antiquitäten und Kunstgegenstände von Schloß Nuneaton angehäuft hatte.
Ein angemessener Rahmen für ihre Schönheit, sagte sich Sorilda.
Sie war nicht die einzige im Schloß, die unter Iris’ Machtansprüchen litt oder für ihre Anziehungskraft bestraft wurde. Mehrere Dienstmädchen, denen nichts vorzuwerfen war, als daß sie hübsch aussahen, waren ohne Empfehlungsschreiben entlassen worden.
Die Herzogin beendete den Brief, steckte ihn in ein Kuvert und versiegelte ihn.
»Lauf zu den Ställen, Sorilda, und wenn du Huxley die Einladung übergeben hast, trödle nicht bei den Pferden herum. Komm sofort wieder zurück.«
Wortlos nahm Sorilda den Umschlag und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um und begegnete einem Blick ihrer Stieftante, der sie erschauern ließ. Warum haßt sie mich? fragte sie sich, während sie die Treppe hinabstieg.
In einem der hohen, golden gerahmten Spiegel betrachtete sie ihr Bild. Wie armselig sie wirkte, verglichen mit der elegant gekleideten Herzogin . . . Das pomadisierte Haar und das triste braune Kleid über der traurigen Imitation einer Krinoline ließen sie wie eine Gouvernante oder eine mittellose Verkäuferin aussehen.
Nur Sorildas Augen konnte Iris nicht verändern. Übergroß und leuchtend grün im hellen Frühlingssonnenschein, der durch die hohen Hallenfenster hereinströmte, beherrschten sie ein zartes, herzförmiges Gesicht. Aber in ihrer Tiefe spiegelten sich eine dunkle Verzweiflung und Angst.
Im Stall angekommen, händigte sie Huxley, dem Oberreitknecht, den Brief aus.
»Ihre Gnaden wünscht, daß diese Nachricht sofort nach Winsford Park gebracht wird.«
»Um diese Aufgabe wird sich keins von unseren Pferden reißen. Miss Sorilda, denn die mögen die Konkurrenz nicht, die sie dort finden«, scherzte der Reitknecht.
Sie wußte, daß er etwas zu vertraulich mit ihr sprach. Die Dienstboten behandelten sie so, als wäre sie seit ihrer Ankunft vor drei Jahren ein Kind geblieben. Stets hatten sie versucht, ihr über den Verlust der Eltern hinwegzuhelfen.
»Ich wünschte, ich könnte die neuen Pferde des Grafen sehen«, sagte sie.
»Schauen Sie doch über den Grenzzaun bei der abgebrannten Eiche, wenn er das nächste Mal ausreitet, Miss«, schlug Huxley vor.
»Sie meinen, er reitet über den langen Galopp?«
»Seine Lordschaft bevorzugt diese Strecke.«
»Dann will ich ihm einmal zusehen«, erwiderte sie lächelnd. »Er ist ein phantastischer Reiter.«
»Der beste, den ich kenne«, stimmte Huxley zu. »Wir hoffen alle, daß er wieder den Gold-Cup gewinnt. Aber da wird ihm ohnehin kaum jemand Konkurrenz machen.«
»Passen Sie bloß auf, daß nicht im letzten Augenblick ein Außenseiter an ihm vorbeischlüpft«, neckte sie ihn.
Wie sie wußte, wettete Huxley leidenschaftlich gern. Sie hatte oft mit ihm über bevorstehende Rennen diskutiert, und sie freute sich immer, wenn er auf das richtige Pferd tippte.
»Jagen Sie mir keine Angst ein, Miss Sorilda!« protestierte er. »Zu schade, daß Sie dieses Jahr nicht nach Ascot fahren.«
Sie erinnert sich an ein Gespräch mit Huxley im Vorjahr. Damals hatte sie erklärt, sie sei sicher, ihr Onkel würde ihr nach ihrem achtzehnten Geburtstag erlauben, die Rennen in Ascot zu besuchen. Das wünschte sie sich schon seit langer Zeit. Aber seit der Ankunft der neuen Herzogin konnte sie genauso gut auf eine Reise zum Nordpol hoffen.
Huxley schien ihr anzumerken, daß er sie mit seiner Bemerkung deprimiert hatte. Hastig bemühte er sich, das wiedergutzumachen.
»Sie sollten Kingfisher ausprobieren, nachdem sein Fesselgelenk geheilt ist. Er braucht eine sanfte Hand. Den Burschen will ich ihn nicht anvertrauen, ehe er wieder ganz der Alte ist.« Auf diese Weise wollte er taktvoll sein, denn sie war stets auf Kingfisher ausgeritten, bis er sich bei einem Sprung das Fesselgelenk verstaucht hatte.
»Ich komme morgen früh um sechs herunter.«
»Dann werde ich auf Sie warten, Miss Sorilda.