Kapitalismus, was tun?. Sahra Wagenknecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sahra Wagenknecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
Год издания: 0
isbn: 9783360500397
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dessen richten die Mainstream-Ökonomen ihre erwartungsvollen Augen auf die Landstriche jenseits des Atlantik. Die Legende von der überwundenen Rezession in den Vereinigten Staaten stützt sich insbesondere auf Daten des »Bureau of the Census« des US-Wirtschaftsministeriums, das im Februar den dritten aufeinander folgenden monatlichen Anstieg der Auftragseingänge für langlebige Wirtschaftsgüter meldete. Allerdings lohnt es sich, genauer hinzusehen, was da so kraftvoll aufwärts strebt. Hinter dem ausgewiesenen Anstieg um 1,5 Prozent verbargen sich nämlich zwei sprunghafte Erhöhungen besonderer Art: Die Zahl der Flugzeugaufträge hatte sich um 41 Prozent erhöht und die der Rüstungsaufträge um 78 Prozent. Jenseits dessen herrscht unvermindert Trostlosigkeit, die noch größer wäre, würde der amerikanische Verbraucher seinen Schuldenberg nicht immer höher auftürmen. Im letzten Quartal 2001, als das durchschnittliche Einkommen stagnierte, gab selbiger immerhin 610 Milliarden rein kreditfinanzierte Dollar zusätzlich aus. Allerdings hat diese Entwicklung natürliche Grenzen, denn bereits heute verbraten US-Bürger im Schnitt 14 Prozent ihres Einkommens für Zins und Tilgung. Und zum Kummer von Bush & Co wurden die steigenden Konsumausgaben durch sinkende Ausgaben der Unternehmen, insbesondere für Anlageinvestitionen, weitgehend ausgeglichen. Den Ausschlag für den Wiederanstieg des Sozialprodukts im ersten Quartal 2002 gab allein der starke Anstieg der Staatsausgaben um 39,8 Mrd. Dollar.

      Sicher, auch eine rechts-keynesianische Rüstungskonjunktur schimpft sich »Aufschwung«. Unter Reagan funktionierte dieses Programm aber auch deshalb so gut, weil die exorbitante Waffenproduktion über das berühmte Doppel-Defizit in Staatshaushalt und Leistungsbilanz letztlich vom Ausland finanziert wurde. Das Problem seiner Nacheiferer heute besteht darin, dass die amerikanische Leistungsbilanz bereits ein Riesenloch von vier Prozent des US-Bruttosozialprodukts aufweist. Trotz Rezession. Um diese Kluft zu schließen, müssen die USA täglich gewaltige Mengen Kapital ins Land holen – und genau das wird zusehends schwieriger. Während 1999 und 2000 das nötige Geld noch vorwiegend über Direktinvestitionen und Aktienkäufe floss, musste das Defizit 2001 zu 95 Prozent über die wesentlich teurere Variante von Anleihen finanziert werden. Wenig spricht dafür, dass die USA weiterhin in wachsendem Umfang auf internationale Liquidität zurückgreifen können. Dann aber gibt es im Grunde nur zwei Auswege: eine deutliche Steigerung der Auslandsnachfrage nach US-Produkten (die allenfalls, wenn man in Krisenregionen weiter fleißig zündelt, im Waffensektor in Sicht ist) oder eine massive Dollarabwertung. In Erwartung der letzteren haben große Investmentfonds und Banken längst begonnen, »marktschonend« – will heißen: still und leise – einen Teil ihres Dollar-Portfolios in Euro-Anlagen umzuwandeln. Ein sinkender Dollar freilich würde Exporte in die USA nicht etwa fördern, sondern zusätzlich erschweren.

      Es spricht also viel dafür, dass der »machtvolle« US-Aufschwung als Rohrkrepierer endet. Überschuldete Konsumenten, gigantische Leistungsbilanzdefizite, Pleiten und Bilanzlügen der Unternehmen, absehbarer Währungsverfall, das ist nicht eben der Kraftstoff, der eine Binnen-, geschweige die Lokomotive einer Weltkonjunktur antreibt. Vielleicht greift BDI-Chef Rogowski Schröder im Wahljahr noch unter die Arme. Der »Aufschwung« jedenfalls wird ihn wohl im Stich lassen. 11. Mai 2002

      Lohnpulle leer

      Auf die Aktienmärkte ist Verlass. Wer Antworten auf die gute alte »Wem nützt’s?«-Frage sucht, den lassen die Ups and Downs der großen Indexe selten im Stich. Kaum war der Baden-Württembergische Tarifabschluss unter Dach und Fach, drehte der Dax leicht ins Plus, getragen von den großen Automobilwerten, die deutlich zulegten. »Tarifpolitik kann zuweilen richtig Freude machen, zumindest dann, wenn am Ende erfolgreiche Abschlüsse vorausschauende Überzeugungsarbeit und ausdauerndes Verhandlungsgeschick honorieren.« Die deutsche Gewerkschaftsbewegung habe sich erfreulicherweise »… weiter von Besitzstandswahrung, Verteilungsdenken und alten Klassenkampfideologien entfernt«. Mit dieser Eloge hatte »Arbeitgeber«-Chef Hundt den Vorläufer des jetzigen Metall-Abschlusses, den Tarifertrag vom Frühjahr 2000, gefeiert. Er hätte sie letzte Woche wiederholen können. Offenbar aber hatten die Kollegen vom IG Metall-Vorstand ihn eindringlich gebeten, sich mit derartigen Äußerungen wenigstens bis zum Ende der Urabstimmung zurückzuhalten und stattdessen den Empörten und Geprellten zu geben. Wie immer: der »kräftige Schluck aus der Lohnpulle«, der zu Jahresbeginn in deftigem Deutsch angedroht worden war, hat sich als spärliches Rinnsal erwiesen. Bei etwa 3,46 Prozent liegen die tatsächlichen Zusatzkosten der Unternehmen in diesem Jahr, rechnet Südwest-Metall Präsident Zwiebelhofer vor. Im nächsten Jahr sind es 3 Prozent. Wieder einmal reichen die Abschlüsse kaum, auch nur den bereits erkämpfen Lebensstandard zu halten.

      Sicher, es gibt in diesem Land genügend Leute, die selbst von 3 Prozent Lohnzuwachs nur träumen können. Outgesourcte, Billigjobber, Leiharbeiter …, die anschwellende Legion derer, für deren monatliche Bezüge Tarifverträge keine Rolle mehr spielen. Aus ihr rekrutiert sich im Westen knapp ein Drittel, im Osten inzwischen gar die Mehrheit der Beschäftigten. Manch einer mag daraus folgern, dass Zwickels Posse den Gallensaft gar nicht lohnt, den der Groll über sie produziert. Aber ein solcher Schluss wäre voreilig. Denn erstens setzen Tarifabschlüsse eine Art Zielmarke, die indirekt auch den unregulierten Lohnsektor beeinflusst. Und zweitens trägt genau diese Art Tarifpolitik dazu bei, die Leute ins organisatorische Niemandsland zu treiben und dadurch Lohndumping noch mehr zu erleichtern.

      So oder so: Der Abschied von »alten Klassenkampfideologien« trägt Früchte. Die Lohnquote, also der Anteil der abhängig Beschäftigten am Volkseinkommen, ist, seit Deutschland wieder einig, groß und kriegerisch ist, um annähernd zehn Prozent gefallen und dümpelt gegenwärtig auf dem Niveau der westdeutschen fünfziger Jahre. (Sicherheitshalber wurde vor einigen Jahren die Berechnungsmethode verändert, damit das Ausmaß der Umverteilung nicht mehr so krass ins Auge fällt.) Allein zwischen 1994 und 1999 haben die großen Kapitalgesellschaften ihr Jahresergebnis vor Steuern nahezu verdoppelt. Und »vor Steuer« ist heutzutage – Eichel sei Dank! – für viele gleich »nach Steuer«. Selbst im Krisenjahr 2001 waren nicht wenige Konzernbilanzen goldgerändert. VW und Porsche protzten mit erneutem Rekordgewinn. An Dividenden wurde nicht gespart.

      Da sich vom hohen Ross aus allerdings schlecht Tarifverträge schließen lassen, entdecken die Bosse, kaum dass sie eines Gewerkschafters ansichtig werden, ihr Herz für den Mittelstand. Wahr ist: Hier sprudelt nur noch selten üppiger Gewinn; eher kreist der Pleitegeier. Gefüttert wird er freilich nicht durch Arbeitskämpfe, sondern ziemlich lautlos durch Briefe wie den folgenden: »Wir empfehlen Ihnen, möglichst kurzfristig Gespräche mit anderen Banken über eine Ablösung zu führen.« Die Kreditkündigung stammt in diesem Fall von der BW-Bank, Empfänger ist ein schwäbischer Handwerksbetrieb, der nun auch bald die Insolvenzstatistik bereichern dürfte. Einer von vielen. »Es ist erschreckend, dass unsere Firmen bei den Banken abgewiesen werden, nur weil sie einen Kredit von 15 Millionen wünschen und nicht von 500 Millionen«, beschwert sich ein Maschinenbauer beim Handelsblatt. Falls eine Bank ihr Füllhorn überhaupt noch öffne, dann zu saftigen Zinsen. Basel II bietet den Vorwand. Die dadurch verursachten Zusatzkosten liegen in der Regel deutlich über jenen Beträgen, die ordentliche Tarifabschlüsse mit sich bringen würden. Und nicht nur die Banken verschicken Briefe. »Für das laufende Geschäftsjahr ersuchen wir Sie um eine Rückerstattung auf den getätigten Jahresumsatz in Höhe von drei Prozent.« Mit diesem Weihnachtsgruß erfreute die Karstadt-Quelle Tochter Neckermann 2001 ihre Zulieferer. »Nur größtmögliche Anstrengungen beiderseits ermöglichen uns gemeinsames Wachstum«, wurde der vertragswidrige Rabatt-Begehr erläutert. Natürlich läuft die Abzocke auf freiwilliger Basis. Nur, welcher kleinere Betrieb kann es sich leisten, einen Großabnehmer wie Karstadt zu verprellen?

      Lohnforderungen mit Verweis auf die schwere Lage des Mittelstands zu kontern, ist also blanke Heuchelei. Es gäbe genügend Möglichkeiten, dieser »Lage« abzuhelfen. Lohnverzicht gehört nicht zu ihnen, denn das Minus in den Geldbeuteln der Beschäftigten ist hier eh nur ein durchlaufendes Plus, das auf vielen verschlungenen Wegen nach oben weitergereicht wird.

      25. Mai 2002

      Teuro-Gefühle

      Der Euro hat geschafft, was Henkel Zeit seiner Amtsperiode als BDI-Chef erfolglos forderte: das Sozialhilfeniveau um zehn bis zwanzig Prozent abzusenken. Etwa diese Größenordnung dürfte der Schnitt ins Fleisch der Ärmsten infolge verteuerter Lebensmittel