Und Elke öffnete die Tür und ließ das Kind hinaus. Als sie dieselbe wieder geschlossen hatte, schlug sie mit einem Ausdruck des tiefsten Grams die Augen zu ihrem Manne auf, aus denen ihm sonst nur Trost und Mut zu Hülfe gekommen war.
Er reichte ihr die Hand und drückte sie, als ob es zwischen ihnen keines weiteren Wortes bedürfe; sie aber sagte leis: »Nein, Hauke, laß mich sprechen: das Kind, das ich nach Jahren dir geboren habe, es wird für immer ein Kind bleiben. O lieber Gott! es ist schwachsinnig; ich muß es einmal vor dir sagen.«
»Ich wußte es längst«, sagte Hauke und hielt die Hand seines Weibes fest, die sie ihm entziehen wollte.
»So sind wir denn doch allein geblieben«, sprach sie wieder.
Aber Hauke schüttelte den Kopf. »Ich hab sie lieb, und sie schlägt ihre Ärmchen um mich und drückt sich fest an meine Brust; um alle Schätze wollt ich das nicht missen!«
Die Frau sah finster vor sich hin. »Aber warum?« sprach sie; »was hab ich arme Mutter denn verschuldet?«
– »Ja, Elke, das hab ich freilich auch gefragt, den, der allein es wissen kann, aber du weißt ja auch, der Allmächtige gibt den Menschen keine Antwort – vielleicht, weil wir sie nicht begreifen würden.«
Er hatte auch die andere Hand seines Weibes gefaßt und zog sie sanft zu sich heran. »Laß dich nicht irren, dein Kind, wie du es tust, zu lieben; sei sicher, das versteht es!«
Da warf sich Elke an ihres Mannes Brust und weinte sich satt und war mit ihrem Leid nicht mehr allein. Dann plötzlich lächelte sie ihn an; nach einem heftigen Händedruck lief sie hinaus und holte sich ihr Kind aus der Kammer der alten Trin’ Jans und nahm es auf ihren Schoß und hätschelte und küßte es, bis es stammelnd sagte: »Mutter, mein liebe Mutter!«
So lebten die Menschen auf dem Deichgrafshofe still beisammen; wäre das Kind nicht dagewesen, es hätte viel gefehlt.
Allmählich verfloß der Sommer; die Zugvögel waren durchgezogen, die Luft wurde leer vom Gesang der Lerchen; nur vor den Scheunen, wo sie beim Dreschen Körner pickten, hörte man hie und da einige kreischend davonfliegen; schon war alles hart gefroren. In der Küche des Haupthauses saß eines Nachmittags die alte Trin’ Jans auf der Holzstufe einer Treppe, die neben dem Feuerherd nach dem Boden lief Es war in den letzten Wochen, als sei sie aufgelebt; sie kam jetzt gern einmal in die Küche und sah Frau Elke hier hantieren; es war keine Rede mehr davon, daß ihre Beine sie nicht hätten dahin tragen können, seit eines Tages klein Wienke sie an der Schürze hier heraufgezogen hatte. Jetzt kniete das Kind an ihrer Seite und sah mit seinen stillen Augen in die Flammen, die aus dem Herdloch aufflackerten; ihr eines Händchen klammerte sich an den Ärmel der Alten, das andere lag in ihrem eigenen fahlblonden Haar. Trin’ Jans erzählte. »Du weißt«, sagte sie, »ich stand in Dienst bei deinem Urgroßvater, als Hausmagd, und dann mußt ich die Schweine füttern; der war klüger als sie alle – da war es, es ist grausam lange her, aber eines Abends, der Mond schien, da ließen sie die Haffschleuse schließen, und sie konnte nicht wieder zurück in See. Oh, wie sie schrie und mit ihren Fischhänden sich ihre harten struppigen Haare griff! Ja, Kind, ich sah es und hörte sie selber schreien! Die Gräben zwischen den Fennen waren alle voll Wasser, und der Mond schien darauf, daß sie wie Silber glänzten, und sie schwamm aus einem Graben in den andren und hob die Arme und schlug, was ihre Hände waren, aneinander, daß man es weither klatschen hörte, als wenn sie beten wollte; aber, Kind, beten können diese Kreaturen nicht. Ich saß vor der Haustür auf ein paar Balken, die zum Bauen angefahren waren, und sah weithin über die Fennen; und das Wasserweib schwamm noch immer in den Gräben, und wenn sie die Arme aufhob, so glitzerten auch die wie Silber und Demanten. Zuletzt sah ich sie nicht mehr, und die Wildgäns’ und Möwen, die ich all die Zeit nicht gehört hatte, zogen wieder mit Pfeifen und Schnattern durch die Luft.«
Die Alte schwieg; das Kind hatte ein Wort sich aufgefangen. »Konnte sie beten?« frug sie. »Was sagst du? Wer war es?«
»Kind«, sagte die Alte; »die Wasserfrau war es; das sind Undinger, die nicht selig werden können.«
»Nicht selig!« wiederholte das Kind, und ein tiefer Seufzer, als habe sie das verstanden, hob die kleine Brust.
– »Trin’ Jans!« kam eine tiefe Stimme von der Küchentür, und die Alte zuckte leicht zusammen. Es war der Deichgraf Hauke Haien, der dort am Ständer lehnte. »Was redet Sie dem Kinde vor? Hab ich Ihr nicht geboten, Ihre Mären für sich zu behalten oder sie den Gäns’ und Hühnern zu erzählen?«
Die Alte sah ihn mit einem bösen Blick an und schob die Kleine von sich fort. »Das sind keine Mären«, murmelte sie in sich hinein, »das hat mein Großohm mir erzählt.«
– »Ihr Großohm, Trin’? Sie wollte es ja eben selbst erlebt haben.«
»Das ist egal«, sagte die Alte; »aber Ihr glaubt nicht, Hauke Haien; Ihr wollt wohl meinen Großohm noch zum Lügner machen!« Dann rückte sie näher an den Herd und streckte die Hände über die Flammen des Feuerlochs.
Der Deichgraf warf einen Blick gegen das Fenster; draußen dämmerte es noch kaum. »Komm, Wienke!« sagte er und zog sein schwachsinniges Kind zu sich heran; »komm mit mir, ich will dir draußen vom Deich aus etwas zeigen! Nur müssen wir zu Fuß gehen; der Schimmel ist beim Schmied.« Dann ging er mit ihr in die Stube, und Elke band dem Kinde dicke wollene Tücher um Hals und Schultern; und bald danach ging der Vater mit ihr auf dem alten Deiche nach Nordwest hinauf, Jeverssand vorbei, bis wo die Watten breit, fast unübersehbar wurden.
Bald hatte er sie getragen, bald ging sie an seiner Hand; die Dämmerung wuchs allmählich; in der Ferne verschwand alles im Dunst und Duft. Aber dort, wohin noch das Auge reichte, hatten die unsichtbar schwellenden Wattströme das Eis zerrissen, und, wie Hauke Haien es in seiner Jugend einst gesehen hatte, aus den Spalten stiegen wie damals die rauchenden Nebel, und daran entlang waren wiederum die unheimlichen närrischen Gestalten und hüpften gegeneinander und dienerten und dehnten sich plötzlich schreckhaft in die Breite.
Das Kind klammerte sich angstvoll an seinen Vater und deckte dessen Hand über sein Gesichtlein. »Die Seeteufel!« raunte es zitternd zwischen seine Finger; »die Seeteufel!«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Wienke, weder Wasserweiber noch Seeteufel; so etwas gibt es nicht; wer hat dir davon gesagt?«
Sie sah mit stumpfem Blicke zu ihm herauf, aber sie antwortete nicht. Er strich ihr zärtlich über die Wangen. »Sieh nur wieder hin!« sagte er, »das sind nur arme hungrige Vögel! Sieh nur, wie jetzt der große seine Flügel breitet, die holen sich die Fische, die in die rauchenden Spalten kommen.«
»Fische«, wiederholte Wienke.
»Ja, Kind, das alles ist lebig, so wie wir; es gibt nichts anderes; aber der liebe Gott ist überall!«
Klein Wienke hatte ihre Augen fest auf den Boden gerichtet und hielt den Atem an; es war, als sähe sie erschrocken in einen Abgrund. Es war vielleicht nur so; der Vater blickte lange auf sie hin, er bückte sich und sah in ihr Gesichtlein; aber keine Regung der verschlossenen Seele wurde darin kund. Er hob sie auf den Arm und steckte ihre verklommenen Händchen in einen seiner dicken Wollhandschuhe. »So, mein Wienke« – und das Kind vernahm wohl nicht den Ton von heftiger Innigkeit in seinen Worten –, »so, wärm dich bei mir! Du bist doch mein Kind, unser einziges. Du hast uns lieb…!« Die Stimme brach dem Manne; aber die Kleine drückte zärtlich ihr Köpfchen in seinen rauhen Bart.
So gingen sie friedlich heimwärts.
Nach Neujahr war wieder einmal die Sorge in das Haus getreten; ein Marschfieber hatte den Deichgrafen ergriffen; auch mit ihm ging es nah am Rand der Grube her, und als er unter Frau Elkes Pfleg und Sorge wieder erstanden war, schien er kaum derselbe Mann. Die Mattigkeit des Körpers lag auch auf seinem Geiste, und Elke sah mit Besorgnis, wie er allzeit leicht zufrieden war. Dennoch, gegen Ende des März, drängte es ihn, seinen Schimmel zu besteigen und zum ersten Male wieder auf seinem Deich entlangzureiten; es war an einem Nachmittage, und die Sonne, die zuvor geschienen hatte,