Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф Конрад. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Джозеф Конрад
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027204113
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recht«, sagte er und hielt inne, wie in betonter Geringschätzung der amtlichen Uhr. »Aber was hat Sie zuerst in diese Richtung gedrängt?«

      »Ich bin immer der Meinung gewesen …« begann der Kommissar.

      »O ja! Meinung! Natürlich! Aber der unmittelbare Beweggrund?«

      »Was soll ich sagen, Sir Ethelred? Das Widerstreben eines neuen Mannes gegen alte Methoden. Der Wunsch, etwas aus erster Hand zu erfahren. Ein wenig Ungeduld. Es ist mein alter Beruf im neuen Gewand. Es hat mich ein wenig gekitzelt.«

      »Ich hoffe, Sie werden es da drüben vorwärtsbringen«, sagte der große Mann gütig und streckte seine Hand aus, die zwar weich, doch breit und kraftvoll war, wie die eines hochgekommenen Farmers. Der Kommissar schüttelte sie und zog sich zurück.

      Im Vorzimmer harrte Toodles wartend auf der Tischkante und trat ihm nun ohne die sonstige Jungenart entgegen.

      »Nun? Zufrieden?« fragte er mit wichtiger Miene.

      »Ganz und gar. Sie haben sich meine unauslöschliche Dankbarkeit gesichert«, gab der Kommissar zurück, dessen langes Gesicht hölzern wirkte neben dem gemachten Ernst des andern, das alle Augenblick bereit schien, in Lachen auszubrechen.

      »Das ist recht. Aber im Ernst, Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ihn die Angriffe auf seinen Gesetzesvorschlag über die Verstaatlichung der Fischereien aufregen! Sie nennen es den ersten Schritt zur Sozialisierung. Natürlich ist es eine revolutionäre Maßnahme. Aber die Burschen haben keine Lebensart; die persönlichen Angriffe –«

      »Ich lese die Zeitungen«, bemerkte der Kommissar.

      »Ekelhaft, was? Und Sie machen sich keine Vorstellung, welche Masse von Arbeit er täglich zu bewältigen hat. Das macht er alles alleine. Scheint diese Fischereien niemand anvertrauen zu wollen.«

      »Und doch hat er eine volle halbe Stunde darauf verwandt, mein kleines Anliegen anzuhören«, warf der Kommissar ein.

      »Klein? So? Freut mich zu hören. Aber es ist doch schade, daß Sie dann nicht lieber weggeblieben sind. Dieser Kampf nimmt ihn schrecklich her. Er reibt sich auf. Das merke ich an der Art, wie er sich auf meinen Arm stützt, wenn wir hinübergehen. Und dann möchte ich wissen: ist er auf der Straße sicher? Mullins hat heute nachmittag seine Leute hergebracht. An jedem Laternenpfahl steht ein Schutzmann und jeder zweite Mensch, dem wir von hier bis Palace Yard begegnen, ist unverkennbar ein ›Verdeckter‹. Das muß ihm nächstens auf die Nerven gehen. Die ausländischen Schufte werden doch nichts nach ihm werfen – oder doch? Das wäre ein nationales Unglück! Das Land kann ihn nicht entbehren.«

      »Sie selbst nicht zu vergessen. Er stützt sich auf Ihren Arm«, fügte der Kommissar anzüglich hinzu. »Sie wären alle beide geliefert.«

      »Das wäre wohl für einen jungen Menschen der einfachste Weg, um in die Weltgeschichte zu kommen? Es sind ja noch nicht so viele britische Minister umgebracht worden, daß man es einen nebensächlichen Zufall nennen könnte. Aber im Ernst –«

      »Ich fürchte sehr, daß Sie etwas zu leisten haben werden, wenn Sie wirklich in die Weltgeschichte kommen wollen. Ganz im Ernst, außer der Überarbeitung sehe ich keine Gefahr für Sie beide.«

      Der sympathische Toodles ergriff freudig diesen Anlaß zu einem Gelächter.

      »Die Fischereien werden mich nicht umbringen. Ich bin an späte Stunden gewöhnt«, erklärte er leichthin. Gleich aber schlug ihm das Gewissen, und er nahm staatsmännischen Ernst an, wie man einen Handschuh anzieht. »Sein starker Kopf ist jeder Arbeit gewachsen. Nur für seine Nerven habe ich Angst. Die reaktionären Parteien mit dem Lästermaul Cheeseman an der Spitze beschimpfen ihn jeden Abend.«

      »Wenn er darauf besteht, eine Revolution zu beginnen«, murmelte der Kommissar.

      »Die Zeit ist da, und er ist der Einzige, der für dieses Werk groß genug ist«, rief der revolutionäre Toodles eifrig und hielt dem ruhigen und forschenden Blick des Kommissars unverzagt stand. Irgendwo im Korridor schrillte eine Glocke, und der junge Mann spitzte in wachem Eifer die Ohren. »Jetzt ist er fertig zum Gehen«, flüsterte er noch, griff nach seinem Hut und stürzte hinaus.

      Der Kommissar verließ den Raum weniger lebhaft durch eine andere Türe. Wieder kreuzte er die breite Hauptstraße, durchschritt eine enge Nebengasse und betrat eilig sein eigenes Amtsgebäude. Er behielt seinen Sturmschritt bis zur Schwelle seines Zimmers bei. Bevor er noch die Türe richtig geschlossen hatte, suchten seine Augen schon den Tisch ab. Er stand einen Augenblick still, ging dann weiter, suchte ringsum auf dem Boden, setzte sich in seinen Stuhl, zog eine Klingel und wartete.

      »Hauptinspektor Heat schon weg?«

      »Jawohl, Herr. Seit einer halben Stunde.«

      Er nickte. »Ist recht.« Dann blieb er still sitzen, den Hut aus der Stirne geschoben, und dachte, daß Heats verdammte Stirn dazu gehörte, das einzige Beweisstück einfach mitzunehmen. Der Gedanke war aber frei von Feindseligkeit. Altgediente, treue Beamte erlauben sich Freiheiten. Der Fetzen von dem Überrock mit der aufgenähten Adresse war sicher kein Ding, das man herumliegen ließ. Er verbannte den Gedanken an diesen Beweis von Inspektor Heats Mißtrauen aus seinem Kopf; dann sandte er seiner Frau eine kurze Mitteilung des Inhalts, sie möchte ihn bei der Gönnerin von Michaelis, in deren Hause sie zum Abendessen geladen waren, entschuldigen.

      In einer Nische hinter einem Vorhang befand sich ein Waschtisch, ein hölzerner Kleiderrechen und ein Bord. Er wählte eine kurze Jacke und einen niedrigen runden Hut, die die Länge seines ernsten, braunen Gesichts ausgezeichnet zur Geltung brachten. Dann trat er in die Mitte des Zimmers zurück und sah wie die Verkörperung eines kühl wägenden Don Quichotte aus, mit den tiefliegenden Augen eines Eiferers bei aller Gemessenheit des Gehabens. Er verließ die Stätte seiner täglichen Arbeit wie ein verwehender Schatten. Als er auf die Straße kam, war ihm, als stiege er in ein schlammiges Aquarium hinunter, aus dem man das Wasser abgelassen hatte. Trüber, drückender Dunst umgab ihn. Die Wände der Häuser trieften, der Schmutz auf den Fahrwegen schillerte phosphoreszierend, und als er aus einer Seitengasse nahe bei Charing Cross Station auf den Strand hinauskam, teilte sich ihm die örtliche Färbung mit. Er konnte gut für einen der vielen fremden Fischer gelten, die man da abends um die dunklen Ecken flitzen sieht.

      Er hielt am Rande des Bürgersteigs an und wartete. Seine geübten Augen hatten in dem verwirrenden Wechsel von Licht und Schatten auf dem Fahrweg ein langsam nahendes Hansom entdeckt. Er gab kein Zeichen; als aber der Wagentritt, langsam den Randstein entlanggleitend, bis zu ihm gekommen war, sprang er geschickt an dem großen Rad vorbei in das Gefährt und rief durch die kleine Klappe den Kutscher an, bevor der Mann, der unter seinem Verdeck vorausspähte, richtig gemerkt hatte, daß er einen Fahrgast bekommen hatte.

      Es war keine lange Fahrt; sie endete, auf ein plötzliches Signal hin, an keinem besonderen Endpunkt, einfach zwischen zwei Laternenpfählen vor einem größeren Warenhaus, dessen lange Reihen von Auslagefenstern schon mit Rolläden für die Nacht geschlossen waren. Der Fahrgast reichte durch die Klappe eine Münze hinauf, sprang ab und ging davon, so daß der Kutscher sich eines unheimlichen Eindrucks nicht erwehren konnte. Doch fühlte sich die Geldmünze groß genug an, und da er literarisch unverbildet war, so blieb ihm die Befürchtung fern, das Geldstück in seiner Tasche in ein welkes Blatt verwandelt zu sehen. Da sein Beruf ihn davor bewahrte, jemals zu der Welt der Fahrgäste herabzusinken, so brachte er deren Handlungen nur geringe Anteilnahme entgegen. Die Art, wie er sein Pferd scharf wendete, zeugte von seiner Lebensanschauung.

      Inzwischen machte der Kommissar schon seine Bestellung beim Kellner eines kleinen italienischen Gasthauses um die Ecke – in einer jener Fallgruben für die Hungrigen, eng und tief, deren schmale Gassenfront mit Spiegeln und weißen Gedecken angeködert ist, ohne Luft, aber mit eigener Atmosphäre – im Duft betrügerischer Kochkunst, die sich die Ärmsten in ihrer bitteren Lebensnotdurft zum Opfer wählt. In diesem wenig moralischen Dunstkreise schien der Kommissar, während er sein Unternehmen überdachte, noch mehr von seinem Selbst zu verlieren. Er fühlte sich einsam, lockend ungebunden. Das war recht lustig. Als er sein karges Mahl bezahlt hatte und stehend auf das Kleingeld wartete, sah er sich