Der kleine Mann hob seine dünnen, schwarzen Augenbrauen in kühler Geringschätzung.
»Verbrechen, was ist das? Was ist Verbrechen? Was willst du damit sagen?«
»Wie soll ich mich ausdrücken? Man muß doch wohl die üblichen Worte gebrauchen«, ereiferte sich Ossipon. »Ich meine, daß diese Geschichte unserer Stellung in diesem Lande sehr schaden kann. Ist dir das nicht Verbrechen genug? Ich bin überzeugt, daß du kürzlich erst etwas von deinem Sprengstoff ausgegeben hast.«
Ossipons Blick forschte eindringlich, der andere nickte, ohne zu zögern, langsam mit dem Kopf.
»Das hast du getan«, brach der Herausgeber der Z.P.-Flugblätter in scharfem Flüsterton los. »Aber nein, – du gibst ihn also wirklich einfach so aus der Hand, wenn der erste beste Narr dich darum bittet?«
»Jawohl, gerade so! Die verdammte Gesellschaftsordnung ist nicht auf Tinte und Papier aufgebaut, und ich bin nicht der Ansicht, daß die Verwendung von Tinte und Papier ihr ein Ende setzen wird, wie immer du auch darüber denken magst. Jawohl, ich würde den Sprengstoff mit vollen Händen austeilen, an jeden, Mann, Weib oder Narr, der daherkäme. Ich weiß, wie du darüber denkst. Aber ich richte mich nicht nach dem Roten Komitee. Von mir aus könnt ihr alle von hier ausgewiesen, oder verhaftet, oder selbst hingerichtet werden wegen dieser Geschichte – und ich würde keinen Finger rühren. Was uns persönlich geschieht, ist ohne jede Bedeutung.«
Er sprach achtlos, ohne Wärme, fast auch ohne Gefühl, und Ossipon versuchte trotz seiner innerlichen Erregung, ihm diese Unbefangenheit nachzumachen.
»Wenn die hiesige Polizei ihr Handwerk verstünde, so würde sie dich mit Revolvern voll Löcher schießen oder dich bei hellem Tage von hinten niederschlagen.«
Der kleine Mann schien diese Möglichkeit schon in den Kreis seiner selbstsicheren Betrachtungen gezogen zu haben.
»Gewiß«, stimmte er mit größter Bereitwilligkeit zu. »Aber dafür hätten sie sich dann vor ihren eigenen Gesetzen zu verantworten. Siehst du? Das erfordert ungewöhnlichen Mut. Mut einer besonderen Art.«
Ossipon zwinkerte.
»Ich glaube aber doch, daß das dein Los wäre, wenn du etwa deine Werkstatt in den Staaten aufmachen würdest. Dort nehmen sie es mit ihren eigenen Gesetzen nicht so genau.«
»Ich habe keine Lust zu einem Versuch. Im übrigen ist deine Bemerkung richtig«, bekräftigte der andere. »Sie haben mehr Charakter dort drüben, und dieser Charakter ist im Wesen anarchistisch. Fruchtbarer Boden für uns, die Staaten – sehr guter Boden. Die große Republik trägt den Keim der Zerstörung in sich. Der Gesamtcharakter neigt zu Gesetzlosigkeit. Sehr gut. Sie mögen uns niederschießen, aber –«
»Du bist mir zu übersinnlich«, knurrte Ossipon in dumpfem Ärger.
»Zu logisch«, wehrte der andere ab. »Es gibt verschiedene Arten von Logik. Meine Art ist die erleuchtete. Amerika ist ganz recht. Nur dieses Land hier ist gefährlich, mit seinem schwärmerischen Begriff von Gesetzmäßigkeit. Der Gesellschaftstrieb dieses Volkes ist von peinlichen Vorurteilen gehemmt, und das schadet unserem Werke. Du sprichst von England als von unserer einzigen Zuflucht; umso schlimmer. Kapua! Wozu brauchen wir eine Zuflucht? Hier redet ihr, druckt, schmiedet Pläne und tut nichts. Das ist für solche Karl Yundts allerdings gerade das Rechte.«
Nach einem leisen Achselzucken fügte er mit der gleichen Bestimmtheit hinzu: »Es sollte unser Ziel sein, mit der abergläubischen Ehrfurcht vor der Gesetzmäßigkeit aufzuräumen. Nichts könnte mich mehr freuen, als wenn Inspektor Heat und seinesgleichen anfangen wollten, uns mit der Zustimmung der Allgemeinheit am hellen Tage niederzuschießen. Dann wäre unsere Schlacht halb gewonnen; die Zersetzung der alten Sittlichkeit hätte in ihrer eigenen Hochburg angefangen. Das solltet ihr erstreben, aber das werdet ihr Revolutionäre nie verstehen. Ihr macht Zukunftspläne, verliert euch in Träumereien von gesellschaftlichen Zuständen, die von den bestehenden abgeleitet sind; während doch vor allem ein großes Aufräumen nottut und ein frischer Anfang unter einem neuen Lebensbegriff. Die Zukunft wird sich ganz alleine richten, wenn ihr nur Platz für sie schaffen wolltet. Darum wollte ich meinen Sprengstoff in Haufen an allen Straßenecken zusammen tragen, wenn ich genug davon hätte; und da dies nicht der Fall ist, so mühe ich mich redlich, einen wirklich zuverlässigen Zünder zu erfinden.«
Ossipon, der sich während der langen Rede wie am Ertrinken gefühlt hatte, griff nun nach dem Schlußsatz, wie nach einer rettenden Planke.
»Ja. Dein Zünder. Es sollte mich nicht wundern, wenn einer deiner Zünder mit dem Mann im Park so gründlich aufgeräumt hätte.«
Über das entschlossene, blasse Gesicht, das Ossipon zugekehrt war, glitt ein Schatten von Betrübnis.
»Die Schwierigkeit für mich liegt gerade darin, die einzelne Art auszuprobieren. Und ausgeprobt müssen sie werden. Abgesehen davon –«
Ossipon unterbrach:
»Wer kann der Bursche sein? Ich versichere dir, daß wir in London keine Ahnung haben. – Könntest du mir nicht die Person beschreiben, der du den Sprengstoff gegeben hast?«
Der andere drehte seine Brillengläser wie zwei Scheinwerfer Ossipon zu.
»Beschreiben«, wiederholte er langsam. »Ich glaube nicht, daß dem jetzt noch etwas im Wege stehen kann. Ich will dir die Beschreibung in einem Wort liefern – Verloc.«
Ossipon, der sich aus Neugierde halb aus seinem Stuhle erhoben hatte, fiel nun zurück, als hätte man ihn ins Gesicht geschlagen. »Verloc! Unmöglich!«
Der selbstbeherrschte kleine Mann nickte kurz.
»Jawohl. Er ist die Person. Du kannst gewiß nicht sagen, daß ich in diesem Fall meinen Stoff an den erstbesten hergelaufenen Narren gegeben habe. Er war, soviel ich weiß, ein hervorragendes Mitglied der Ortsgruppe.«
»Jawohl,« sagte Ossipon, »hervorragend. Oder nein, eigentlich doch nicht. Er hatte den allgemeinen Nachrichtendienst unter sich und nahm gewöhnlich die Genossen in Empfang, die hier herüberkamen. Mehr nützlich als hervorragend. Ein Mensch ohne eigene Gedanken. Vor Jahren einmal pflegte er in Versammlungen zu reden – in Frankreich, glaube ich. Und auch das nicht besonders gut. Er hatte das Vertrauen von Leuten wie Latorre, Moser und all den alten Knaben. Seine einzige wirkliche Befähigung zeigte sich darin, daß er die Aufmerksamkeit der Polizei immer irgendwie abzulenken verstand. Hier zum Beispiel schien er nicht sonderlich beachtet zu werden. Er war richtig verheiratet, verstehst du. Ich glaube auch, daß er den Laden mit ihrem Geld eingerichtet hat. Er schien auch ein Geschäft dabei zu machen.«
Ossipon unterbrach sich, murmelte halblaut: »Ich möchte wohl wissen, was die Frau jetzt anfangen wird«, und fiel in Gedanken.
Der andere wartete mit einer unterstrichenen Gleichgültigkeit. Seine Herkunft war dunkel, und er war ganz allgemein nur unter dem Spitznamen »der Professor« bekannt. Sein Anspruch auf diesen Titel gründete sich auf die Tatsache, daß er früher einmal Assistent für chemische Versuche an einer technischen Hochschule gewesen war. Damals war er mit dem Lehrkörper wegen ungerechter Behandlung in Streit geraten. Späterhin erhielt er eine Stellung in einer Farbenfabrik. Auch hier war er mit empörender Ungerechtigkeit behandelt worden. Seine Kämpfe, seine Entbehrungen, sein inneres, hartes Streben, sich auf der gesellschaftlichen Stufenleiter emporzuarbeiten, hatten ihn mit einer so überspannten Meinung von seiner Tüchtigkeit erfüllt, daß es für die Welt unendlich schwierig war, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – was ja im Wesen so sehr von der Geduld des einzelnen abhängt. Der Professor hatte Genie, doch fehlte ihm die große, gesellschaftliche Tugend der Selbstbescheidung.
»Verstandesmäßig eine reine Null,« sagte Ossipon laut und riß sich damit von den stillschweigenden Betrachtungen über Frau Verlocs verwaisten Leib und Laden los, »reiner Durchschnittsmensch. Du solltest lieber Fühlung mit den Genossen suchen, Professor«, fügte er vorwurfsvoll hinzu. »Sagte er dir irgend etwas – deutete er seine Absicht an? Ich habe ihn einen Monat lang nicht gesehen. Es will mir nicht in den Kopf,