——Fussnote
[1] "Journal Encyclopedique", Juillet 1762.
——Fussnote
Neunzehntes Stueck
Den 3. Julius 1767
Es ist einem jeden vergoennt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es ist ruehmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechenschaft zu geben suchen. Aber den Gruenden, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit erteilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit haette, ihn zu dem einzigen wahren Geschmacke machen muesste, heisst aus den Grenzen des forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen. Der angefuehrte franzoesische Schriftsteller faengt mit einem bescheidenen "Uns waere lieber gewesen" an und geht zu so allgemein verbindenden Ausspruechen fort, dass man glauben sollte, dieses Uns sei aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfodert.
Nun hat es Aristoteles laengst entschieden, wie weit sich der tragische Dichter um die historische Wahrheit zu bekuemmern habe; nicht weiter, als sie einer wohleingerichteten Fabel aehnlich ist, mit der er seine Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, dass er sie schwerlich zu seinem gegenwaertigen Zwecke besser erdichten koennte. Findet er diese Schicklichkeit von ohngefaehr an einem wahren Falle, so ist ihm der wahre Fall willkommen; aber die Geschichtbuecher erst lange darum nachzuschlagen, lohnt der Muehe nicht. Und wie viele wissen denn, was geschehen ist? Wenn wir die Moeglichkeit, dass etwas geschehen kann, nur daher abnehmen wollen, weil es geschehen ist: was hindert uns, eine gaenzlich erdichtete Fabel fuer eine wirklich geschehene Historie zu halten, von der wir nie etwas gehoert haben? Was ist das erste, was uns eine Historie glaubwuerdig macht? Ist es nicht ihre innere Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerlei, ob diese Wahrscheinlichkeit von gar keinen Zeugnissen und Ueberlieferungen bestaetiget wird, oder von solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind? Es wird ohne Grund angenommen, dass es eine Bestimmung des Theaters mit sei, das Andenken grosser Maenner zu erhalten; dafuer ist die Geschichte, aber nicht das Theater. Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umstaenden tun werde. Die Absicht der Tragoedie ist weit philosophischer, als die Absicht der Geschichte; und es heisst sie von ihrer wahren Wuerde herabsetzen, wenn man sie zu einem blossen Panegyrikus beruehmter Maenner macht, oder sie gar den Nationa1stolz zu naehren missbraucht.
Die zweite Erinnerung des naemlichen franzoesischen Kunstrichters gegen die "Zelmire" des Du Belloy ist wichtiger. Er tadelt, dass sie fast nichts als ein Gewebe mannigfaltiger wunderbarer Zufaelle sei, die in den engen Raum von vierundzwanzig Stunden zusammengepresst, aller Illusion unfaehig wuerden. Eine seltsam ausgesparte Situation ueber die andere! ein Theaterstreich ueber den andern! Was geschieht nicht alles! was hat man nicht alles zu behalten! Wo sich die Begebenheiten so draengen, koennen schwerlich alle vorbereitet genug sein. Wo uns so vieles ueberrascht, wird uns leicht manches mehr befremden, als ueberraschen. "Warum muss sich z.E. der Tyrann dem Rhamnes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm seine Verbrechen zu offenbaren? Faellt Ilus nicht gleichsam vom Himmel? Ist die Gemuetsaenderung des Rhamnes nicht viel zu schleunig? Bis auf den Augenblick, da er den Antenor ersticht, nimmt er an den Verbrechen seines Herrn auf die entschlossenste Weise teil; und wenn er einmal Reue zu empfinden geschienen, so hatte er sie doch sogleich wieder unterdrueckt. Welch geringfuegige Ursachen gibt hiernaechst der Dichter nicht manchmal den wichtigsten Dingen! So muss Polydor, wenn er aus der Schlacht koemmt und sich wiederum in dem Grabmale verbergen will, der Zelmire den Ruecken zukehren, und der Dichter muss uns sorgfaeltig diesen kleinen Umstand einschaerfen. Denn wenn Polydor anders ginge, wenn er der Prinzessin das Gesicht, anstatt den Ruecken zuwendete: so wuerde sie ihn erkennen, und die folgende Szene, wo diese zaertliche Tochter unwissend ihren Vater seinen Henkern ueberliefert, diese so vorstechende, auf alle Zuschauer so grossen Eindruck machende Szene fiele weg. Waere es gleichwohl nicht weit natuerlicher gewesen, wenn Polydor, indem er wieder in das Grabmal fluechtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugerufen oder auch nur einen Wink gegeben haette? Freilich waere es so natuerlicher gewesen, als dass die ganzen letzten Akte sich nunmehr auf die Art, wie Polydor geht, ob er seinen Ruecken dahin oder dorthin kehret, gruenden muessen. Mit dem Billett des Azor hat es die naemliche Bewandtnis: brachte es der Soldat im zweiten Akte gleich mit, so wie er es haette mitbringen sollen, so war der Tyrann entlarvet, und das Stueck hatte ein Ende."
Die Uebersetzung der "Zelmire" ist nur in Prosa. Aber wer wird nicht lieber eine koernichte, wohlklingende Prosa hoeren wollen, als matte, geradebrechte Verse? Unter allen unsern gereimten Uebersetzungen werden kaum ein halbes Dutzend sein, die ertraeglich sind. Und dass man mich ja nicht bei dem Worte nehme, sie zu nennen! Ich wuerde eher wissen, wo ich aufhoeren, als wo ich anfangen sollte. Die beste ist an vielen Stellen dunkel und zweideutig; der Franzose war schon nicht der groesste Versifikateur, sondern stuemperte und flickte; der Deutsche war es noch weniger, und indem er sich bemuehte, die gluecklichen und ungluecklichen Zeilen seines Originals gleich treu zu uebersetzen, so ist es natuerlich, dass oefters, was dort nur Lueckenbuesserei oder Tautologie war, hier zu foermlichem Unsinne werden musste. Der Ausdruck ist dabei meistens so niedrig und die Konstruktion so verworfen, dass der Schauspieler allen seinen Adel noetig hat, jenem aufzuhelfen, und allen seinen Verstand brauchet, diese nur nicht verfehlen zu lassen. Ihm die Deklamation zu erleichtern, daran ist vollends gar nicht gedacht worden!
Aber verlohnt es denn auch der Muehe, auf franzoesische Verse so viel Fleiss zu wenden, bis in unserer Sprache ebenso waessrig korrekte, ebenso grammatikalisch kalte Verse daraus werden? Wenn wir hingegen den ganzen poetischen Schmuck der Franzosen in unsere Prosa uebertragen, so wird unsere Prosa dadurch eben noch nicht sehr poetisch werden. Es wird der Zwitterton noch lange nicht daraus entstehen, der aus den prosaischen Uebersetzungen englischer Dichter entstanden ist, in welchen der Gebrauch der kuehnsten Tropen und Figuren, ausser einer gebundenen kadensierten Wortfuegung, uns an Besoffene denken laesst, die ohne Musik tanzen. Der Ausdruck wird sich hoechstens ueber die alltaegliche Sprache nicht weiter erheben, als sich die theatralische Deklamation ueber den gewoehnlichen Ton der gesellschaftlichen Unterhaltungen erheben soll. Und sonach wuenschte ich unserm prosaischen Uebersetzer recht viele Nachfolger; ob ich gleich der Meinung des Houdar de la Motte gar nicht bin, dass das Silbenmass ueberhaupt ein kindischer Zwang sei, dem sich der dramatische Dichter am wenigsten Ursache habe zu unterwerfen. Denn hier koemmt es bloss darauf an, unter zwei Uebeln das kleinste zu waehlen; entweder Verstand und Nachdruck der Versifikation, oder diese jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la Motte war seine Meinung zu vergeben; er hatte eine Sprache in Gedanken, in der das Metrische der Poesie nur Kitzelung der Ohren ist und zur Verstaerkung des Ausdrucks nichts beitragen kann; in der unsrigen hingegen ist es etwas mehr, und wir koennen der griechischen ungleich naeher kommen, die durch den blossen Rhythmus ihrer Versarten die Leidenschaften, die darin ausgedrueckt werden, anzudeuten vermag. Die franzoesischen Verse haben nichts als den Wert der ueberstandenen Schwierigkeit fuer sich; und freilich ist dieses nur ein sehr elender Wert.
Die Rolle des Antenors hat Herr Borchers ungemein wohl gespielt; mit aller der Besonnenheit und Heiterkeit, die einem Boesewichte von grossem Verstande so natuerlich zu sein scheinen. Kein misslungener Anschlag wird ihn in Verlegenheit setzen; er ist an immer neuen Raenken unerschoepflich; er besinnt sich kaum, und der unerwartetste Streich, der ihn in seiner Bloesse darzustellen drohte, empfaengt eine Wendung, die ihm die Larve nur noch fester aufdrueckt. Diesen Charakter nicht zu verderben, ist von seiten des Schauspielers das getreueste Gedaechtnis, die fertigste Stimme, die freieste, nachlaessigste Aktion unumgaenglich noetig. Hr. Borchers hat ueberhaupt sehr viele Talente, und schon das muss ein guenstiges Vorurteil fuer ihn erwecken, dass er sich in alten Rollen ebenso gern uebet, als in jungen. Dieses zeuget von seiner Liebe zur Kunst; und der Kenner unterscheidet ihn sogleich von so vielen andern jungen Schauspielern, die nur immer auf der Buehne glaenzen wollen, und deren kleine Eitelkeit, sich in lauter galanten liebenswuerdigen Rollen begaffen und bewundern zu lassen, ihr vornehmster, auch wohl oefters ihr einziger Beruf zum Theater ist.
Zwanzigstes