Ein ankommendes Schiff … in Booten ihm entgegen! An Bord!
Das Schiff im Hafen. Die Landungsbrücken in die gedrängten Menschenmassen stürzend, sie niederschlagend, erdrückend … darüber drängend … stoßend … wahnsinnige Massen.
Eine Brücke bricht … Hunderte im Wasser … rettungslos versinkend.
Angehörige auseinandergerissen … alle Bande des Blutes gelöst.
Das Schiff überladen. Keine Abfahrt … tausend Hände um die Trossen geklammert … Der Kapitän, die Mannschaft Waffen in den Händen. Die Trossen gekappt! Verzweifelter Sprung … ihm nach, dem Schiff …
Schüsse knallen … Flüche … Verwünschungen … Bitten … Flehen … das Schiff in Fahrt …
Wohin?
Tausend Wünsche … Der Kapitän ratlos.
Wohin?
Alle Mannschaft auf die Brücke und an die Rudermaschine … Waffen zur Abwehr gegen die Massen gerichtet …
Vorbei an verlassenen Leuchtfeuern … Sturm im Kanal … kein Platz mehr unter Deck. Verzweifelte … Kranke, Sterbende auf Deck. Im Wetteifer überboten sich Fernsehen, Radio und Presse in diesen Szenen.
Und doch waren es nur kleine Ausschnitte aus dem Riesenbild der Zerstörung eines großen Landes. Eines Bildes, das ganz zu malen Wort und Licht versagten.
Nur eins bei alledem war auffallend. Während die Presse der übrigen Welt in erster Linie der New Canal Company und ihrem Leiter die Schuld an dem Geschehen beimaß und sich in Schmähungen gegen sie ergoß, schwieg die amerikanische Presse, von wenigen Ausnahmen abgesehen, beinahe völlig über diesen Punkt.
Es war die immer wiederkehrende Wendung, mit der die Klippe der Schuld umschifft wurde: Der Verantwortliche ist vor Gericht gestellt.
Schuld oder Unschuld, der Richterspruch wird es erweisen. In den wenigen Ausnahmen freilich stand es anders. Die New Canal Company und ihr Leiter Guy Rouse, sie waren die Schuldigen.
Das Berner Parlament war wieder versammelt. Ein anderes! Bild als vor vier Wochen. Gewiß! Die Tribünen wieder überfüllt. Doch der große weite Saal wies beinahe soviel Lücken als Abgeordnete. Wie lange würde es dauern, und diese würden für immer fehlen. Die aus dem Norden!
Nur spärlich waren die erschienen. Wozu auch? Da oben standen Not und Tod vor der Tür, wogegen hundert Parlamentsreden nichts nützen konnten. Das Leben retten! Zusammenraffen, was an Geld und Vermögenswerten blieb … Das ging vor.
Die Sitzung begann. Einige Redner, die in leidenschaftlichen Worten die schwersten Anklagen gegen Amerika schleuderten. Man hörte sie … zuckte die Achseln. Was war damit gewonnen? Der Kranke mußte sterben. Nichts rettete ihn vom Tode.
Dann eine Reihe anderer, die mit unmöglichen Vorschlägen kamen.
Man schüttelte den Kopf darüber. Die Liste war erschöpft. Die meisten hatten verzichtet. Der Minister des Innern war der letzte. Er stand auf der Tribüne. Aller Augen hingen an ihm.
Der Minister sprach. Und mit jedem Worte, das aus seinem Munde kam, wurden die Herzen der Hörer schwerer und schwerer.
Verloren! Verloren! Nichts anderes klang aus seiner Rede. Das nackte Leben retten … den Millionen im Norden. Mehr vermochte die Regierung nicht.
Die Periode sinnloser Flucht war vorbei. Das Organisationssystem der Regierung arbeitete. Ein Riesenproblem … unvollkommen natürlich gelöst … nicht ausreichend gegenüber der Größe des Unglücks, aber genügend, um das Chaos zu verhindern.
Zweihunderttausend Menschen an jedem Tag galt es aus den bedrohten Gebieten abzutransportieren. War das schon eine Riesenaufgabe, kaum zu lösen ohne die Unterstützung der ganzen Welt … noch schwerer war hier die zweite … wohin?
Und nun entwarf der Minister in großen Zügen den Plan der Regierung. Abtransport mit vorgeschriebenem Gepäck und Gewicht.
Nach den Häfen Europas … Sammlung in großen Lagern … Einteilung der Massen nach Zielen und Wünschen … später Weitertransport nach Amerika … Südafrika … Asien … Australien.
Jahrzehnte würde es dauern, bis der Rest Europas seine wirtschaftliche Umstellung finden und sich in die neuen Lebensbedingungen eingewöhnen würde. Hoffnungslosigkeit sprach aus den Worten des Ministers, Hoffnungslosigkeit lag über der Versammlung. Das Parlament ging auseinander, nachdem es der Regierung unbeschränkte Vollmachten für das nächste Jahr gegeben hatte.
»Das sterbende Europa«, das war die Überschrift, die von nun an in den ausländischen Blättern über den europäischen Nachrichten stand.
Sie stand, wenn auch ungeschrieben, über dem Bericht des afrikanischen Botschafters an die kaiserliche Regierung in Timbuktu.
Dieser Bericht war soeben in der Sitzung des Kabinetts, die im Beisein des Kaisers und des Generalstabschefs stattfand, verlesen worden. Aller Augen hingen an Augustus Salvator.
Tief in den Stuhl zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen, hatte er den Bericht vernommen. Kein Muskel in seinem Gesicht verriet, was dabei in seinem Innern vorging. Minuten verrannen. Tiefste Stille im Raum. Der Kaiser … was dachte, was sann er? Die drückende Stille wirkte lastender, je länger sie dauerte. Endlich! … Der Kaiser richtete sich auf. Sein Blick ging zu dem Generalstabschef.
»Wie weit sind die militärischen Bewegungen an der Südgrenze gekommen?«
»Alle Punkte von strategischer Wichtigkeit sind besetzt und gesichert.
Verschleierte Mobilmachungsbefehle haben im Norden des Reiches die zahlenmäßige Stärke der dortigen Truppen um das Dreifache erhöht.
Alle Möglichkeiten für den Abtransport nach Süden sind geregelt.
Munitions- und Lebensmitteltransporte gehen Tag und Nacht in das Aufmarschgebiet …«
»Wie steht es drüben?« unterbrach ihn der Kaiser. »Die gleichen Vorbereitungen! Irreguläre auf beiden Seiten haben heute Nacht die ersten Schüsse gewechselt. Die Vorfälle sind unblutig verlaufen.«
Der Kaiser nickte.
»Wiederholen Sie nochmals ausdrücklich den Befehl an alle Kommandeure im Süden, sich vor jeder Grenzverletzung – selbst bei Herausforderungen – zu hüten. Es würde den Krieg bedeuten, den Krieg, den …«, der Kaiser sprach es mit starker Stimme, »… ich nicht wünsche.«
Sein Auge ging in die Runde.
»Nein! Ich wünsche ihn nicht. Ich will ihn nicht, den Krieg. Jetzt weniger denn je.
Meine Herren! Das Unglück, das über Europa hereinbrach, es ist zu groß, zu unausdenkbar groß, als daß ein Mann in dessen Ausnutzung etwas tun könnte, was dem Sterbenden den Becher der Linderung aus der Hand schlagen würde.
Ich sehe einige Herren erstaunt über meine Worte. Ich verstehe ihren Gedankengang. Gewiß! Ein Strom von Menschen, von Männern, mehr jungen als alten, wird sich nach Südafrika ergießen. Siedler, Soldaten.
Ungeahnter Zuwachs für die Kräfte der Südafrikanischen Union. Neue Arbeitskräfte, die unsere schwarzen Brüder allmählich immer mehr verdrängen werden. Ich weiß es, ich sehe es. Jetzt Krieg! Aasgeier würden sie mich nennen … mit Recht.
Nein! Die Verhandlungen mit der Südafrikanischen Union werden weitergehen wie vorher unter gleich starken Nachbarn, Gegnern, wie vorher, ehe das Unglück eintrat. Meine Forderungen werden nicht um einen Deut höher werden. Die Verhandlungen werden in demselben versöhnlichen Sinne weitergeführt werden – die Verhandlungen über die Gleichberechtigung der beiden Rassen in der Südafrikanischen Union.
Die dilatorische Behandlung der Frage hat allerdings ein Ende. Die Hoffnungen, die bisher dazu Anlaß gaben, liegen begraben unter den Ruinen Europas.«
Der Kaiser schwieg. Sinnend