Ich will Ihre Zeit nicht durch weitschweifige Ausführungen in Anspruch nehmen. Ich selbst habe die Erscheinung in den inzwischen verflossenen Monaten nicht weniger als acht Mal gesehen, sie angerufen und bin ihr ebenfalls in die Prior-Kapelle gefolgt. Stets tauchte sie in jener Allee auf, die von Lebensbäumen eingerahmt ist und an deren einer Seite sich ein altes Grabmal mit einer mächtigen Steinplatte darauf befindet. Die Natur dieses grauen, bis zum Kopf in wallende Tücher gehüllten Geschöpfes zu ergründen, ist mir nicht gelungen. Nur ein Mal sah ich etwas von dem Gesicht dieses – sagen wir ruhig – Gespenstes. Ein blasses, bartloses Antlitz, anscheinend das eines Mannes, war’s. Und ein andermal wieder, an jenem Abend, als ich mir den Besitzer der Mönchsabtei, den Kaufmann Wernicke, gleichsam als Zeugen eingeladen hatte, damit er sich von der Wahrheit meiner Angaben vergewissere, wagte ich es, der Erscheinung sogar den Weg zu vertreten. Da es eine stockdunkle Nacht war, hatte ich mir eine helleuchtende Acetylenlaterne mitgenommen. Und was geschah?! Mit einer geradezu hoheitsvollen Gebärde streckte das Gespenst mir den Arm entgegen. Meine Füße waren in demselben Moment wie gelähmt, die Laterne verlöschte ohne jede äußere Ursache, und – ruhig schritt »der Graue« , wie wir den unheimlichen Wanderer längst getauft haben, in die Kapelle hinein.
So stehen hier die Sachen. Wernicke, der sein Anwesen gern verkaufen möchte, hat mich flehentlich gebeten, über meine Beobachtungen zu schweigen, da er die Mönchsabtei sonst niemals veräußern kann. Jeder Käufer würde ja durch die Geistererscheinung abgeschreckt werden. Nunmehr hat er darein gewilligt, daß ich Ihnen die unheimliche Geschichte anvertraue. Er will auch die Hälfte der Kosten tragen, was schon sehr viel bedeutet, da der Mann sehr sparsam, fast geizig ist. – Mit einem Wort: Drei einwandfreie Zeugen, nämlich Wernicke, mein Diener und ich, haben die Erscheinung beobachtet. An ihrer Existenz ist mithin nicht zu zweifeln. Und da ich als aufgeklärter Mensch an übernatürliche Dinge nicht glauben kann, anderseits aber eine Erklärung für das Geschaute nicht zu finden vermag, bitte ich Sie der Sache auf den Grund zu gehen.
Hochachtungsvoll
Friedrich Müller,
Privatgelehrter.
»Daß diesen Bericht ein Privatgelehrter verfaßt hat, merkt man,« brummte Fritz Schaper vor sich hin, nachdem er mit der Lektüre fertig war. »Gerade das, worauf es ankommt, fehlt. – Nun, sehen wir zunächst einmal nach, wo dieses Nest mit dem schönen Namen Gauben liegt. Denn – der Fall interessiert mich. Ich rieche förmlich das Außergewöhnliche. In dieser Beziehung habe ich mich noch nie getäuscht.«
Er holte das Kursbuch wieder hervor, schlug die Eisenbahnkarte von Ostdeutschland auf und:
»Holla! Da haben wir’s ja schon. Also an der Bahnlinie Stettin-Danzig, unweit von Stolp, das paßt ja vorzüglich. Die Sache wird gemacht.«
Er klingelte und befahl dem eintretenden Lemke, sofort ein Antwortschreiben für Friedrich Müller aufzusetzen des Inhalts, daß er in den nächsten Tagen in Gauben eintreffen würde.
3. Kapitel
Die gescheiterte Brigg
Auf die drei furchtbaren Sturmtage mit ihren anhaltenden Regengüssen war endlich wieder ein sonnenklarer Tag gefolgt. Noch grollte die See, warf noch immer den weißen Gischt ihrer sich überstürzenden Wogen bis zu dem hölzernen Bootssteg hinauf, der bei jedem Anprall der Wasserberge zitterte, stöhnte und ächzte wie ein gepeinigtes, gereiztes Tier.
Mit dem Nachlassen des Orkans und unter den scheinbar die Natur zum Frieden mahnenden, besänftigenden Strahlen des heute vom wolkenlosen, blauen Augusthimmel herableuchtenden Tagesgestirns beruhigten sich die aufgepeitschten Wogen zusehends, wurden kleiner, zahmer, sodaß bereits mehrere Boote des holsteinischen Fischerdorfes es gewagt hatten, nach der großen Brigg hinauszurudern, die dort draußen, den Bug hochaufgerichtet und ihrer gesamten Takelage beraubt, auf der etwa fünfhundert Meter vom Strande entfernten Sandbank inmitten der schäumenden Brandung lag, jetzt ein hilfloses Wrack, und vor drei Tagen noch ein schmucker Segler, den erst der verhängnisvolle Sturm in regenfinsterer Nacht aus seinem Kurs gegen die gefährliche Westküste von Holstein getrieben hatte.
Doktor Heinz Gerster, der neben Frau Käti Deprouval auf der Spitze des Bootssteges stand, ließ soeben das Fernglas sinken, mit dem er bis eben nach dem gestrandeten Fahrzeug hinübergeschaut hatte.
»Ein Boot kommt bereits zurück. Da werden wir bald näheres über das Schiff erfahren, gnädige Frau,« sagte er interessiert.
»Ob denn wirklich die ganze Besatzung den Tod in den Wellen gefunden haben mag?« meinte die schlanke, blasse Dame mit ihrer müden, aber selten wohlklingenden Stimme.
»Leider besteht sehr wenig Hoffnung, daß sich auch nur ein einziger von der Bemannung gerettet hat,« erwiderte Doktor Gerster.
Frau Deprouval schauderte wie fröstelnd zusammen.
»Die armen, armen Leute,« sagte sie leise.
Wieder führte jetzt Doktor Gerster sein Fernglas an die Augen.
»Keine dreihundert Meter sind sie noch entfernt,« erklärte er ganz aufgeregt.
Und nach einer Weile:
»Wirklich, ich täusche mich nicht. Sie haben einen sechsten Mann im Boot. Das ist kein Fischer. Vielleicht, nein, was rede ich – bestimmt ist’s einer der Besatzung.«
Immer mehr näherte sich das auf den Wogen auf und abtanzende kleine Fahrzeug dem Stege. Jetzt konnte man schon mit bloßen Augen die Gesichter erkennen.
Da – was bedeutet das? – Wahrhaftig, das Boot wandte plötzlich und kehrte mit schnellen Ruderschlägen zu dem Wrack zurück.
»Begreifen Sie diese hastige Umkehr?« fragte Heinz Gerster, das Fernglas absetzend.
Keine Antwort. Unwillkürlich blickte er auf seine Nachbarin. Weshalb schwieg sie so hartnäckig?
Doktor Gerster fuhr erschreckt zusammen. Ein Blick in Frau Kätis Gesicht klärte ihn auf – denn leichenblaß, die Augen halb geschlossen, lehnte sie schwer, wie mit einer Ohnmacht kämpfend, am Geländer des Steges.
»Käti – Käti, was haben Sie, was fehlt Ihnen?«
Ängstliche Sorge lag im Ton seiner Stimme. Und ganz unbewußt hatte er die vertraute Anrede gebraucht, zu der nichts, nichts ihn berechtigte, die im Gegenteil dieser Frau gegenüber nichts als eine Verletzung der schuldigen Achtung war.
Mit aller Kraft raffte sie sich auf. Und es gelang ihr wirklich, etwas wie ein Lächeln mühsam hervorzuquälen.
»Eine momentane Schwächeanwandlung – nichts weiter,« sagte sie mit leisem Seufzer.
Er hatte vorhin, um sie zu stützen, die Hand um ihre Taille gelegt. So lehnten sie jetzt dicht aneinander, ganz dicht. Keiner von ihnen regte sich, keiner sprach ein weiteres Wort. Und doch fühlten sie nur zu deutlich, wie ein Strom unaussprechlicher Seligkeit von Herz zu Herzen floß, wie ihre Pulse schneller und schneller jagten.
Der Augenblick, den sie beide nach diesen vier Wochen, die sie, nur auf sich angewiesen, in dem kleinen Fischerdorfe verlebt hatten, so sehr fürchteten, war da.
Endlich erwachte sie wie aus einem wunderbaren Traume. Ihre Augen füllten sich mit Tränen; zaghaft machte sie sich von ihm los und sagte mit ihrer weichen, süßen Stimme:
»Seien wir verständig, mein Freund. Wir wissen, daß wir einander nie angehören können, nie! Und – ich danke Ihnen, Heinz, danke Ihnen aus vollem Herzen dafür, daß Sie diese Minute stillen Selbstvergessens nicht ausgenutzt haben – nicht das taten, was ein wenig ehrenhafter Charakter vielleicht gewagt hätte. Unsere Lippen sind rein geblieben, damit auch unsere Freundschaft. Und die wollen wir uns erhalten – bitte – bitte.«
Mit festem Druck fügten sich ihre Hände ineinander.
Heinz