Wenn man aufsteht, wird die Verbeugung tiefer. Heinz Florian Oertel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinz Florian Oertel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная прикладная и научно-популярная литература
Год издания: 0
isbn: 9783355500449
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ich möglichst viel zu sehen und zu erleben, was nach dem Portemonnaie möglich war.

      Als die Chancen wuchsen, aus der Gefangenschaft entlassen zu werden und ins richtige Leben zurückzukehren, kam für mich nur eins in Frage, jetzt irgendwo und irgendwie ans Theater zu gelangen. Das löste eine verrückte Aktion aus. Alles Geld, das ich hatte und von Freunden hinzupumpte, steckte ich in eine Bewerbungsoffensive. Circa zwanzig deutsche Theater erhielten meine Briefe. Inhalt: Ich bin der und der, achtzehn Jahre alt, bitte um ein Vorsprechen und, schön wäre ein Anfänger-Engagement, und nach Möglichkeit die Ausbildung an einer angeschlossenen Schauspielschule.

      Bald merkte ich, alles auf einmal war zu viel verlangt. Absage auf Absage traf ein, und mein Optimismus flaute ab … Später, als klar war, ich kann nach Haus, konzentrierte ich alle Versuche auf das heimatliche Cottbuser Stadttheater. Im Herbst 1946 begann dort meine Arbeit als Schauspielanfänger und Regie-Assistent. Für diese Tätigkeit wurden mir vertraglich achtzig Mark zugesichert.

      Achtzig Mark. Mein erstes selbstverdientes Geld, nach Arbeitsdienst und Marine-Sold. Ich war selig. Zumindest einen Monat lang. Den hatte ich mit Vorschuss überstanden. Vorschüsse, wie ich schnell erfuhr, waren ganz und gar theaterüblich. Auch die Bestbezahlten nahmen das in Anspruch. Doch ich stand nun sofort in der Kreide, und das bei nur schwacher Aussicht, aus dem schwarzen Loch wieder herauszukommen. Ein Brot kostete auf dem florierenden Schwarzmarkt vierzig Mark. Demnach verdiente ich zwei Brote pro Monat …

      Endlich am Theater

      Alles Schwierige wurde überstrahlt von der Tatsache, dass ich endlich am Theater war. Leider fungierte ich häufig nur als Ersatzmann. Ich studierte und probte zwar den Mortimer in »Maria Stuart«, den Schüler im »Faust«, aber zum Zuge kam immer ein Kollege, drei Jahre älter, erfahrener und, aus heutiger Sicht, bestimmt auch besser. Meine Hoffnung hieß Abwarten und – peinlich, das auszusprechen – Daumendrücken, den anderen würde ein Schnupfen, eine Heiserkeit, um Himmels willen aber nichts Schlimmes, außer Form bringen, damit ich endlich einspringen könnte. Es passierte nie. So blieb es bei den Märchenprinzen, beim Erzengel Gabriel im Himmelsprolog zum »Faust«, beim Ullbrich in »Flitterwochen«, wobei Walter Richter-Reinick den anderen Liebhaber spielte, und ähnlichen Partien. Viel Arbeit und gewaltige Lernchancen boten aber die Regie-Assistenz, die Sprecherziehung bei Hans-Erich Korbschmidt, und ein unvergesslicher Vorfall mit Fingerzeig fürs Leben. Wie heißt es: Nie lernt man mehr als aus Niederlagen.

      Premierenpleite

      Hauptgrund für mich, diesen Weg zu verlassen, war das wenige Geld. Mit achtzig Mark konnte ich nichts anfangen, konnte mir weder Kleidung kaufen, noch reichte es für Essen und Trinken. So konnte es nicht weitergehen, das sah ich ein.

      Und ich habe nicht gebrannt. Ich habe es gern gemacht, aber ich habe gespürt, das ist nicht das Ding für mich. Das eigentlich Entscheidende war: Fremde Texte aufzunehmen und wiederzugeben, wobei ein Regisseur dir sagt, wie du das zu machen hast, das war nichts für mich. Ich kam mir vor wie ein Wiederkäuer, konnte es nicht als etwas Eigenes empfinden. So gesehen kam zum rechten Zeitpunkt mein großer Reinfall in Cottbus … die Premiere des Stückes »Der Patriot«.

      Wir haben seinerzeit im Osten oft Friedrich Wolf gespielt, Kommunist, kluger, intelligenter Mann. Sein »Professor Mamlock«, ein ergreifendes Stück und eines der ersten über die Judenverfolgung, wurde in der DDR zu Recht Schulstoff. Aber nun »Der Patriot«. Patrioten. Er meinte die Widerstandskämpfer in der Zeit des Dritten Reiches. Über die Qualität des Stückes urteile ich nicht. Aber über mich. Am Premierenabend also kam ich ins Theater, gedachte, meine kleine Rolle – die eines jungen Mannes in der französischen Résistance – ordentlich zu spielen, eben so, wie wir sie geprobt hatten. Da eilte mir ein Mitarbeiter entgegen und teilte aufgeregt mit, ich solle mich sofort beim Intendanten melden. Dort bekam ich einen Text, den ich in den knapp zwei Stunden, die es noch bis zur Aufführung waren, lernen sollte. Zwei, drei Schreibmaschinenseiten Prosa, geschrieben von einem angetrunkenen Autor, dem berühmten Friedrich Wolf. Wie ich später erfuhr, hatte er bei seiner Anreise zur Premiere, vorn neben dem Fahrer sitzend, was in seine Reiseschreibmaschine getippt, jemand hatte mit Bleistift noch ein paar Striche gemacht, und so wurde mir das gegeben … Dann, das Theater war voll besetzt, die drei Klingelzeichen verklungen, das Saallicht erloschen, schickte mich unser Inspizient mit einem »Ab geht die Post« aus der Seitengasse auf die Bühne. Ich allein. Vor mir siebenhundert Leute. Ein Spotscheinwerfer nahm mich aufs Korn. Wie hinter einem Schleier erkannte ich in den ersten drei, vier Reihen Gesichter, und aus dem Souffleurkasten hörte ich, wie aus weiter Ferne, die Stimme Gertruds. Gertrud, einst Schauspielerin, zählte zu den nettesten Damen des Ensembles. Und auch an diesem Welturaufführungsabend gab sie ihr Bestes. Meines reichte aber nicht aus.

      Was mich in der Schule und bei den Rezitatorenwettbewerben überhaupt nicht anfocht, überfiel mich nun brutal. Ich schwitzte. Ich rang nach Luft. Alle Atemtechnik-Neuerkenntnisse halfen nicht eine Minilaus. Die ersten Wolf-Sätze brachte ich noch einigermaßen über die Rampe. Gertrud warf mir dann Wörterrettungsringe zu. Ich konnte nicht einen einzigen fangen. Dafür gebar ich in der Lampenfiebernot wilde, wirre Satzerfindungen. »Frieden muss einkehren und erhalten bleiben, Widerstand war Heldentum, alle Welt muss nun zusammenstehen, Patrioten, seid gegrüßt …« Papperlapapp, Abtreterdeutsch. Wolfsche Restbestände, durchtränkt vom Angstschweiß eines Bühnenfasttoten …

      Das Publikum reagierte null Komma null. Weder Jubel noch Pfiffe, nicht mal ein Grummeln. Sie nahmen das hin, wohl weil sie dachten, alles, was der da erzählt, ist vom Dichter vorgegeben. Aber ich hatte, wie gesagt, nach drei, vier Sätzen die Spur verloren. Immerhin wusste ich, dass es um Krieg und Frieden ging. Da habe ich selber einen Text gemacht – ganz simple Worthülsen in der Art, dass wir alle nach dem Debakel des Krieges daran denken sollten, dass jetzt Frieden herrscht. Und Frieden soll sein. Ich habe mir was zusammengesponnen, ein paar Sätze gesprochen, irgendwann brach ich ab. Aus dem Chaos flüchtend, stürzte ich in die Bühnengasse und sofort auf die nächste Toilette. Ich wusste, das ist das Ende. Das muss es sein. Morgen kriege ich die Papiere. Doch nichts geschah. Hinter der Bühne hatte jeder mit sich zu tun. Auf der Bühne ohnehin. Aber wo blieben der Intendant oder einer seiner Beauftragten? Wo war Wolf? Der berühmte Dramatiker, der Prologverfasser, geschändet durch mich …

      Am nächsten Tag, nach einer schlaflosen Nacht, stellte sich heraus: Intendant, Dichter und der sowjetische Stadtkommandant, ein Freund der Künste und der Prozente, zechten bis zum Schlussbeifall. Doch nicht in der Intendantenloge, sondern im Büro. Wodka, Machorka und Speckbrote machten sie glücklich, während ich ums Überleben kämpfte. Nur eine Person bemerkte wirklich, was da geschah, Gertrud. Doch sie hielt dicht …

      Abschied vom Theater

      Solche Erlebnisse brachten mir schließlich die Gewissheit, dass hier nicht der richtige Platz für mich war. Hinzu kam noch meine Ungeduld. Ich wollte an größere Rollen ran, auch wenn ich die sicherlich noch gar nicht bewältigen konnte. Aber kennst du einen jungen Schauspieler, der sich nicht alles zutraut?

      Also ich litt, wie viele in dem Alter und Berufsstadium, an ausgeprägter Selbstüberschätzung. Das kollidiert natürlich mit der Chef- oder Leitungsmeinung. Und dann, ganz ehrlich, brauchte ich mehr Geld. Achtzig Mark im Monat reichten vorne und hinten nicht. Zwar stellte man mir nach vorsichtigem Fragen bald hundert Mark in Aussicht, doch ich lag Vater und Mutter auf der Tasche, wohnte und aß bei ihnen für Nullouvert. Das konnte so nicht weitergehen. Dazu gesellte sich die Flüsterpropaganda, als Lehrer erhält man zwischen dreihundert und vierhundert Mark, und das verhieß, was der Milchmann Tevje im »Fiedler auf dem Dach« singt: »Wenn ich einmal reich wär …«

      So geschah’s in Senftenberg. Wir spielten Klabunds »XYZ«. Gastspiele quer durch die Lausitz gehörten zu den Aufgaben, und oft galt als Abendgage sehr Naturelles. Mit »Flitterwochen« traten wir beispielsweise in Spreewaldorten an, und einmal kassierte ich einen Korb Pilze, mal ein Stück Butter, und in Burg, ich sehe den Dorfsaal noch vor mir, brachte uns mit dem Schlussapplaus eine hübsche Sorbin Gurkengläser auf die Bühne. Nun, im Senftenberger Nachtquartier, Gorki hätte es als ideale Bühnenbild-Vorlage empfunden, beschloss ich im Freundesgespräch, ich mache Schluss.

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