Golowin
Der halbe Mai war mit der Reise von Tula in den Kaukasus vergangen. Am siebzehnten kam Maria von Krüdener in Kislawodsk an, wo sie Nachrichten von ihrem Gatten zu finden hoffte. Er war bei Ausbruch der Revolution an die englisch-russische Front nach Persien geflüchtet. Seit fünf Monaten hatte sie kein Lebenszeichen von ihm.
Unfern von Kislawodsk war die Besitzung seines Bruders, des Marschalls.
Ihm hatte Alexander Botschaft senden gewollt, wenn die andern Wege der
Mitteilung versperrt waren.
Mit ihren vier Kindern und drei Dienerinnen bezog sie Wohnung im Palasthotel. Das jüngste Kind lag noch an der Brust; sie nährte es selbst. Es war drei Monate nach der Trennung von Alexander geboren; hätte sie vorher nicht begriffen, was ein Pfand bedeutet, jetzt wußte sie es.
Beklemmend stand das ungeheure Gebirge da. Sie konnte nicht schwelgen in seinem Anblick, es war zu sehr Mauer, und Mauer hinter Mauer bis zum ewigen Schnee hinauf. Wie sollte man da entrinnen? Schlimm, was gewesen war; das Blut hatte sich noch nicht beruhigt. In der ersten Nacht träumte sie, Fäuste, ein Gewirr von Fäusten strecke sich ihr entgegen, und jede Faust hatte Mörderaugen. Die Schnittwunde am Arm ließ die Szene im Eisenbahnwagen nicht vergessen, als tierisch betrunkene Soldaten das Coupefenster zerschmetterten; acht Menschen waren in dem Abteil eingepfercht und Berge von Gepäckstücken, alles Hab und Gut, das man aus Tula hatte fortschaffen können. Die Kinder schrien auf, als zwei Kerle schnaubend an der Türe rissen und andere johlend nachdrängten; Dymow war in einen Waggon nebenan gegangen, um ein Fleckchen zu finden, wo er endlich eine Stunde schlafen konnte. Maria hatte den ersten Hieb aufgefangen und war blutend unter die Leute getreten. Sie wichen zurück, zu ihrer eigenen Überraschung, und senkten scheu die Augen, als ströme eine Magie von ihr aus. Es war ihr selbst so zumute; sie glaubte an eine in ihr verborgene Magie.
Dennoch wäre sie ohne Dymow verloren gewesen. Iwan Dymow hatte als Schreiber bei Gericht gedient; einfacher Mensch aus dem Volk, hatte ihn die Revolution hinaufgehoben, er hatte Macht erlangt, die er aber nicht mißbrauchte. Als Gutsherrin hatte ihm Maria, schon Jahre vorher, menschliches Wohlwollen bezeigt und während einer Krankheit seinem Weibe Hilfe geleistet. Sie dachte nicht mehr an ihn, aber in der Stunde der Gefahr kam er von selbst. Er besorgte Pässe, bestach den Soldatenrat, wußte den Argwohn der Bauern abzulenken, denen die Herrin eine wichtige Geisel war, räumte alle Schwierigkeiten für die Reise hinweg, machte den Spion, den Aufpasser, den Lastenschlepper, den Bürgen, mit immer gleicher schweigender Ehrerbietung gegen Maria. Als er sich in Kislawodsk von ihr verabschiedete, fragte sie bewegt, arm an Worten sogar sie, womit sie ihm danken könne, sie fühle sich tief in seiner Schuld. Er antwortete: »Ich werde mich glücklich schätzen, Maria Jakowlewna, wenn Sie mir manchmal schreiben, wie es Ihnen und den Kinderchen weiter ergangen ist.«
War dies nicht auch Teil und Frucht jener Magie?
Als Dame der ersten Gesellschaft, Frau eines Offiziers, Trägerin eines großen Namens wurde sie von den Gästen des Hotels mit Freuden begrüßt und mit Auszeichnung behandelt, obwohl man wußte, daß sie von deutscher Herkunft war und Russin erst seit ihrer Heirat.
Nun war sie wieder, nach langer Enthaltung, unter den Menschen ihrer Sphäre, in der Region von Heiterkeit und umgrenzter Übereinkunft, die ihr früher so gemäß und erwünscht gewesen war. Aber sie merkte bald, daß nur noch eine äußerliche Zugehörigkeit bestand, und daß die Jahre, die sie auf dem Gut verbracht, erst mit Alexander und dann allein, und wenn auch allein, so doch noch unter seinem Gesetz und seiner Führung, sie an ein anderes Maß und eine andere Benützung der Zeit gewöhnt hatten. Auch konnte hier niemand in seinem Bereich verbleiben; die Elemente waren bedenklich gemischt, und dies zu verhindern war unmöglich, weil gemeinsames Schicksal alle zueinander trieb. Das Haus, der ganze Ort, ehemals ein Treffpunkt der Aristokratie und Schauplatz des erlesensten Luxus, glich einer Insel der Schiffbrüchigen und beherbergte lauter Flüchtlinge mit ihrer letzten Habe und letzten Hoffnung, Großfürsten und Kammerherren neben Spekulanten und Journalisten, Frauen der exklusivsten Moskauer und Petersburger Kreise neben Koketten und Kleinbürgerinnen, die im Krieg zu Reichtum gelangt waren. Sie waren der Hölle entronnen, aber sie wußten, daß ihnen bloß eine Galgenfrist geschenkt war. Sie zitterten vor der Zukunft, aber sie praßten und feierten Feste. Sie hörten von Hinrichtungen ihrer Väter, ihrer Brüder, ihrer Freunde, aber sie betäubten sich im Hasard und tanzten Tango und Onestep.
Einen verläßlichen Mann zu finden, den sie mit einem Brief auf das Gut des Marschalls schicken konnte, war Marias Bemühung sogleich. Zu ihrer Freude erfuhr sie, daß Josef Menasse in Kislawodsk sei; er hatte von ihr ebenfalls gehört und kam, sich zu ihrer Verfügung zu stellen. Er war Prokurist eines großen Odessaer Bankhauses, mit welchem Alexander von Krüdener geschäftliche Verbindung gehabt hatte. Da sie sich erinnerte, aus Alexanders Mund hie und da das Lob von Menasses Redlichkeit vernommen zu haben, war ihr Vertrauen sogleich unbedingt und auch in der Folge nicht zu erschüttern. In lebhaften Ausbrüchen klagte er ihr sein Unglück; einer wichtigen Transaktion halber war er vor mehreren Wochen hergekommen; am Tage, wo er hätte abreisen sollen, fuhren keine Züge mehr und jeder Versuch, den Ort zu verlassen, hieß das Leben gefährden. Maria hörte ihm teilnehmend zu, und erst als er sich erschöpft hatte, sprach sie von ihrer Angelegenheit. Er überlegte, sagte, er werde Umschau halten, und drei Stunden später erschien er mit einer Tscherkessin, die er trocken und kategorisch als die zu dem Zweck taugliche Person empfahl.
Der Marschall hatte seinerzeit die Heirat des jüngeren Bruders mißbilligt. Es war zum Bruch zwischen den Brüdern gekommen, der Marschall zeigte sich unversöhnlich und hatte sich starr geweigert, Maria zu sehen. Man meldete ihm die Geburt der Kinder, er nahm keine Notiz davon. Alexander hatte es ertragen ohne zu murren und ließ auch in Maria keinen Unmut Wurzel fassen, denn er beugte sich vor dem Bruder als einem überlegenen Charakter, dessen Handlungen und Entschlüsse er von seiner Kritik ausschaltete. Er beugte sich, damit war alles gesagt und auch in Maria jeder Widerspruch erstickt. Bei Ausbruch des Krieges hatte der Marschall in einem Privatschreiben an den Zaren seine Ämter und Würden niedergelegt, da nach seiner Überzeugung der Krieg gegen Deutschland zum Verhängnis für Rußland werden mußte. Er hatte im japanischen Krieg glänzende Leistungen vollbracht, und schon deshalb war dieser Schritt keiner üblen Deutung ausgesetzt. Nun lebte er in äußerster Zurückgezogenheit und beschäftigte sich, leidenschaftlicher Hegelianer, mit profunden philosophischen Studien.
Wie sich Menschen gegen sie verhielten, war Maria gleichgültig, wenn sie ihrerseits an ihnen Freude haben oder sie ehren konnte. Würde stand ihr über den täuschenden Einflüsterungen der Sympathie. Dazu hatte Alexander sie erzogen. In vielen Gesprächen vieler Nächte hatte er ihr bewiesen, daß das Prinzip der Vergeltung die Quelle alles Bösen sei. In der Befolgung seiner Lehre war sie zu der ihr eigentümlichen geistigen Konstanz gelangt. Der Brief an den Marschall war ein Meisterstück unbefangener Werbung.
So wartete sie, wartete auf Alexanders Wort und Weisung von dorther und ahnte doch die Vergeblichkeit schon. Um sich zu zerstreuen, begann sie den ältesten Sohn, den siebenjährigen Mitja, zu unterrichten, fand sich aber unzureichend, das Bedürfnis des Knaben heftiger als sie vermutet und suchte einen Lehrer für ihn. Ein Moskauer Bekannter nannte ihr einen Studenten, Jefim Leontowitsch Tatjanow, der in einem geringen Wirtshaus vor der Stadt wohnte. Sie ließ ihn kommen und engagierte ihn. Er war im Gefolge eines Industriellen als Sekretär oder dergleichen gereist; unterwegs war der Mann und die meisten seiner Leute von einer herumziehenden Bande von Soldaten ermordet worden; nun saß Jefim Leontowitsch völlig mittellos in diesem Ort des Überflusses. Maria behandelte ihn mit Rücksicht und mit Achtung; dies schien ihm neu zu sein, und seine Dankbarkeit hatte etwas Kindliches. Er kam nicht nur zu den ausbedungenen Stunden, sondern widmete seinem Schüler alle freie Zeit; auch die beiden Kleinen, Fedja und Aljoscha zog er durch seine einfache Güte an sich.
Eines Morgens war Aljoscha, der Mutter im Korridor