Das Moor war ein einziger violetter Teppich von Heidekraut. Am Horizont erhoben sich die Berge des Grampian-Gebirges. Ihre Gipfel waren noch mit Schnee bedeckt.
Ein Schwarm Sumpfhühner stieg auf und rettete sich schnatternd in die Sicherheit des Tals.
Das Gelände stieg stetig an. Schließlich, am Rande eines Plateaus angekommen, hielt Mr. Dunblame das Pferd an, um dem Herzog und seinem Gast die Möglichkeit zu geben, die Landschaft in Ruhe zu betrachten.
Die Flußmündung glitzerte tiefblau im Sonnenschein. Die Dächer und Türme von Perth wirkten wie rote Flecken zu beiden Seiten der Ufer, die Wildnis der weitgedehnten Heide schien unendliche Freiheit zu vermitteln.
Der Herzog hatte plötzlich das Gefühl, aus der Enge eines Gefängnisses entflohen zu sein. Ein Gefühl, das er sich nicht erklären konnte.
Er mußte an die Gesichter der Bediensteten denken, die am Ende der Gangway auf sie gewartet hatten.
Mr. Dunblame hatte ihm den Mann vorgestellt, der ihnen Vorstand: ein großer, rauher Schotte, der den Herzog mit Augen angesehen hatte, die voll Ergebenheit waren.
Sollte ich nach all den Jahren den Menschen, die denselben Namen tragen wie ich, noch etwas bedeuten? hatte er sich gefragt.
Er hätte gerne Mr. Dunblame gebeten, ihm dieses Phänomen zu erklären, aber er wollte den Verwalter nicht in Verlegenheit bringen. Außerdem hätte Lord Hinchley unter Garantie über seine Neugierde gelacht.
Schließlich hatte er immer wieder betont, mit welchem Widerwillen er diese Reise antrat und wie sehr er Schottland haßte „Wenn Ihnen das Land derart zuwider ist, warum fahren Sie dann hin?“ hatte ihn der Freund einmal gefragt.
„Aus familiären Gründen“, hatte der Herzog nur knapp geantwortet.
Diskret, wie Lord Hinchley nun einmal war, hatte er es bei dieser einen Frage belassen. Lord Hinchley schätzte den Herzog sehr. Er bewunderte seine Fairness, mußte aber immer wieder feststellen, daß er von einer Reserviertheit sein konnte, die ihm noch bei keinem anderen Menschen begegnet war.
Man hätte doch annehmen sollen, daß es unter Freunden, und sie waren sehr gute Freunde, nichts gab, worüber man nicht sprechen konnte. Nichts, was tabu war. Doch - kam die Rede auf die McNarn, so wurde der Herzog wortkarg.
Sie ritten weiter. Hier, auf flachem Gelände, legten die Pferde ein ordentliches Tempo vor.
Sowohl der Herzog als auch sein Freund Lord Hinchley waren daran gewöhnt, lange Stunden im Sattel zu verbringen. Sie legten oft Strecken zurück, die andere zu reiten nicht einmal erwogen hätten. Trotzdem war Lord Hinchley erleichtert, als der Ritt sich seinem Ende näherte.
„Jetzt sind wir gleich da“, erklärte Mr. Dunblame nach etwa zwei Stunden. „In fünf Minuten kann man das Schloß bereits sehen.“
Der Herzog war den Anblick gewöhnt, als sie jedoch aus einem Hohlweg kamen und es plötzlich vor sich liegen sahen, war er beeindruckt. In seiner Erinnerung war es viel kleiner und unansehnlicher gewesen.
Aus grauem Sandstein erbaut, war Narn Castle mit seinen Türmen und Türmchen der großartigste Bau des ganzen Hochlandes.
Lord Hinchley war begeistert.
„Mein Gott, Taran!“ rief er. „Sie haben nie erwähnt, daß Sie ein Schloß besitzen, das sogar Windsor Castle in den Schatten stellt.“ „Ich freue mich, daß es Ihnen gefällt“, erwiderte der Herzog trocken, stellte jedoch zu seinem Erstaunen fest, daß er irgendwie stolz war.
Er hatte das Schloß gehaßt. Wie ein riesiger Schatten hatte es seine Kindheit belastet. Es hatte so bedrohlich und so feindselig auf ihn gewirkt, daß er aufgeatmet hatte, als er mitten in der Nacht aus seinen Mauern geflohen war. Nie wieder kehre ich hierher zurück, hatte er sich damals geschworen.
An diesem Tag jedoch spiegelte sich der Schein der Sonne in den Fenstern, die Flagge wehte auf der Spitze des höchsten Turms, und das, was für den Herzog als Kind beängstigend gewirkt hatte, wirkte jetzt majestätisch.
Die perfekte Umgebung für das Oberhaupt der McNarn.
Der Herzog drehte sich nach den sechs Dienern um, die ihnen in gebührendem Abstand gefolgt waren. Sie kamen näher.
„Die anderen, warten vor dem Schloß“, sagte Mr. Dunblame in dem Moment.
„Welche anderen?“ fragte der Herzog.
„Die Mitglieder des Clans“, antwortete Mr. Dunblame. „Natürlich nur diejenigen, die in der Nachbarschaft wohnen. Der Rest kommt morgen oder übermorgen.“
Der Herzog überlegte.
„Und wozu das Ganze?“ fragte er schließlich. Sein Ton war scharf und leicht vorwurfsvoll.
Mr. Dunblame sah den Herzog mit offenem Blick an.
„Die Einführung eines neuen Oberhaupts ist seit eh und je mit traditionellen Zeremonien verbunden“, sagte er. „Die Leute warten schon sehnsüchtig auf die Rückkehr Euer Gnaden.“
Der Herzog schwieg. Er konnte Mr. Dunblame unmöglich sagen, daß ihn erst der zweite Brief zu dieser Rückkehr bewogen hatte.
Vage erinnerte er sich an Zusammenkünfte, die sein Vater abgehalten hatte und bei denen er nie hatte zugegen sein dürfen.
Der Herzog wußte, wie wichtig ein Oberhaupt für die Mitglieder eines Clans war, aber er hatte diese Tatsache verdrängt oder sich zumindest eingeredet, daß diese Art von Tradition veraltet war und ihr kein Gewicht mehr verliehen werde.
Er hatte sich allerdings einer Täuschung hingegeben. Das wurde ihm jetzt klar.
In dem Brief an Mr. Dunblame, in dem er seine Ankunft angekündigt hatte, hatte er dummerweise nicht betont, daß er keine Willkommensgrüße und keine Ovationen der Mitglieder des Clans wünsche. Wahrscheinlich jedoch hätte man derlei Wünsche mißachtet.
Das Oberhaupt war nun einmal die Vaterfigur des Clans. Das Recht von früher, über Leben und Tod seiner Untergebenen zu bestimmen, war ihm inzwischen genommen, es trug jedoch nach wie vor die volle Verantwortung für das Wohlergehen der Leute.
Der Herzog erinnerte sich an einen Satz, den er einmal in einer Abhandlung über die Funktion eines Oberhaupts gelesen hatte:
Als Grundbesitzer, Vaterfigur, Richter und Heerführer ist seine Macht gewaltig und unumstritten, trotzdem jedoch bespricht er wichtige Entscheidungen mit den Mitgliedern seiner Familie und den führenden Persönlichkeiten seines Clans.
Eines stand für den Herzog allerdings fest: Eine Familie wollte er nicht so schnell gründen. Schon gar nicht, um jemanden zu haben, mit dem er über wichtige Entscheidungen diskutieren konnte.
Seine Schwester Janet war tot, sein Vater Gott sei Dank auch.
Blieb also nur Torquil, dieser törichte junge Mann, der ihn dazu veranlaßt hatte, die Bequemlichkeiten und Vergnügungen Londons hinter sich zu lassen und nach Schottland zurückzukehren.
Sicherlich gab es noch irgendwelche anderen Verwandten, an die er sich nicht erinnern konnte. Vorsichtig erkundigte er sich bei seinem Verwalter.
„Lebt übrigens sonst noch jemand auf dem Schloß?“ fragte er.
„Nur Jamie, Euer Gnaden“, antwortete Mr. Dunblame.
„Jamie?“
„Ja, Lady Janets jüngerer Sohn.“
„Natürlich!“
Der Herzog hatte sich lediglich nicht an den Namen des zweiten Kindes erinnert, bei dessen Geburt seine Schwester gestorben war.
„Er ist ein sehr aufgeweckter Bub“, berichtete Mr. Dunblame weiter. „Immer zu irgendwelchen Streichen aufgelegt. In jeder Beziehung ein richtiger McNarn.“
„Ich weiß nicht, ob ich es sehr schätzen werde, wenn meine Neffen immer zu irgendwelchen Streichen auf- gelegt sind“, entgegnete der Herzog kühl.