Ausgewählte Erzählungen & Abenteuerromane (21 Titel in einem Band). Robert Louis Stevenson. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Louis Stevenson
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027212255
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in ihrer Phantasie mit irgendeiner hochgewachsenen, stolzen und rosigen Heldin mit goldenen Locken vermählt, geschaffen nach ihrem eigenen Bilde, der sie mit Entzücken das Brautbett bestreut haben würde; und sie hätte über das Scheitern ihrer ehrgeizigen Träume weinen mögen. Jedoch die Götter hatten gesprochen; das Urteil lautete anders.

      Unruhig, von fieberhaften Gedanken bestürmt, wand sie sich in jener Nacht auf ihrem Lager. Gefährliche Dinge standen bevor, eine Schlacht, über deren Ausgang sie mit Sympathie, Furcht und wechselnder Parteinahme für die eine oder die andere Seite eifersüchtig brütete. Jetzt fühlte sie sich wiedergeboren in ihrer Nichte, jetzt in Archie. Jetzt sah sie durch des Mädchens Augen den Jüngling vor sich knien, vernahm in tödlicher Schwäche sein hartnäckiges Flehen und empfing seine überwältigenden Liebkosungen. Und im nächsten Augenblick, in plötzlicher Umkehr ihrer Natur, raste sie bei dem Gedanken, jene höchsten Gaben des Geschicks und der Liebe an ein Balg von einem Mädchen verschwendet zu sehen, an ein Wesen ihres eigenen Hauses, das ihren eigenen Namen sich anmaßte – dies war eine tödliche Kränkung –, an jemand, »die selbst nicht wußte, was sie wollte, und die so schwarz war wie ihr eigener Hut!«. Und wieder zitterte sie vor Angst, daß ihr Idol vergeblich flehen könnte, denn sie sehnte den Erfolg als eine Art Triumph der Natur für ihn herbei; und im darauffolgenden Moment, mit wiederauflebender Treue für ihre eigene Familie und ihr Geschlecht, zitterte sie um Kirstie und um den guten Ruf der Elliotts. Endlich erblickte sie visionär sich selbst; die Zeit für ihre altmodischen Geschichten, für ihren Dorfklatsch war vorüber, auf ewig sagte sie dem Glanz der Liebe und des Lebens Lebewohl, und dahinter, in der Ferne, kroch sie, um zu sterben, dem düsteren, allmächtigen Ende zu. Hatte sie den Becher wirklich bis zur Neige geleert, sie, die sie so groß, so schön war, mit einem Herzen frisch wie das eines Mädchens und stark wie bei einem Weibe? Es konnte nicht sein, und doch war es so; einen Augenblick lang war ihr Bett ihr furchtbar wie die Mauern des Grabes. Vor ihr dehnte sich die Wüste der Stunden, in der sie rasen und zittern würde, bis der Tag anbräche und die Arbeit des Tages erneuert werden müßte.

      Plötzlich hörte sie Schritte auf der Treppe – seinen Schritt; bald danach wurde ein Fenster aufgestoßen. Sie setzte sich klopfenden Herzens aufrecht. Er war allein in seinem Zimmer, und er war nicht zu Bett gegangen. Eines ihrer nächtlichen Gespräche winkte ihr, und bei diesem bezaubernden Ausblick ging eine Veränderung in ihr vor; mit dem Nahen jener Hoffnung auf Freude schwand auch sogleich alles Niedrige aus ihren Gedanken. Sie erhob sich, ganz Weib, das Weib in seiner reinsten Gestalt, zärtlich, mitfühlend, voller Haß gegen alles Böse und treu ihrem eigenen Geschlecht – und doch mit allen Schwächen dieses geliebten und komplizierten Wesens, mit Hoffnungen, wortlos und schmeichelnd, die sich eng an ihr weiches Herz schmiegten und an ihm zehrten, Hoffnungen, die sie sich selbst niemals zugestanden hätte, und wäre es um ihr Leben gegangen. Sie riß ihre Haube herunter, und ihr Haar fiel in üppiger Fülle um ihre Schultern. Unsterbliche Koketterie erwachte. Im matten Schein der nächtlichen Kerze stand sie vor ihrem Spiegel, die edlen Arme über dem Haupte erhoben, und sammelte den Schatz ihrer Flechten ein. Sie war nie zimperlich in ihrer Bewunderung von sich selbst; jene Art Bescheidenheit war ihr fremd, und sie hielt erfreut und überrascht bei diesem Anblick inne. »Du verrücktes, altes Frauenzimmer!« sagte sie zu sich selbst, damit einen Gedanken beantwortend, der doch nicht wirklich war, und sie errötete mit der Unschuld eines Kindes. Hastig band sie die schweren, leuchtenden Flechten auf, hastig zog sie einen Morgenrock an und stahl sich, Kerze in der Hand, in den Korridor. Von unten hörte sie die Uhr ihre gemessenen Sekunden ticken und Frank mit den Karaffen im Speisezimmer klirren. Feindschaft, bitter und jäh, stieg in ihr auf. »Ekliger, versoffener kleiner Köter!« dachte sie; im nächsten Moment hatte sie vorsichtig an Archies Zimmertür geklopft und die Aufforderung, einzutreten, erhalten.

      Archie hatte hinaus in die uralte Nacht gestarrt, hier und dort von einem glanzlosen Stern erhellt; tief sog er die süßduftende Luft der Heide ein, suchte und fand vielleicht auch den Frieden der Unglücklichen. Er wandte sich bei ihrem Eintritt um und zeigte gegen den Fensterrahmen sein bleiches Gesicht.

      »Bist du es, Kirstie?« fragte er. »Tritt nur näher!«

      »Es ist schon unheimlich spät, Kind«, erklärte Kirstie mit erheucheltem Widerstreben.

      »Nein, nein«, antwortete er, »durchaus nicht. Komm nur herein, wenn du einen Schwatz halten willst. Ich bin, weiß Gott, nicht schläfrig!«

      Sie kam näher, nahm einen Stuhl neben dem Toilettentisch und stellte die Kerze vor sich auf den Boden. Etwas vielleicht ihre zwanglose Kleidung, vielleicht die Erregung in ihrer Brust – hatte sie mit dem Zauberstab der Verwandlung berührt; sie schien jung, von der Jugend der Göttinnen.

      »Mr. Archie«, hub sie an, »was ist Ihnen nur?«

      »Ich wüßte nicht, daß mir irgend etwas wäre«, entgegnete Archie errötend und bereute sogleich bitterlich, sie eingelassen zu haben.

      »Ach, liebes Kind, so geht es nicht!« sagte Kirstie. »Wer liebt, den kann man nur schwer täuschen. Ach, Mr. Archie, überlegen Sie’s wohl, eh es zu spät ist. Sie sollten nicht gierig sein nach den guten Dingen des Lebens; die werden alle kommen, jedes zu seiner Zeit, wie die Sonne und der Regen. Sie sind ja noch so jung; Sie haben eine hübsche Anzahl Jahre vor sich. Achten Sie darauf, daß Sie nicht gleich zu Anfang, wie so viele andere, Schiffbruch erleiden! Haben Sie nur Geduld – mir hat man immer gesagt, das wäre die Hauptsache im Leben –, nur Geduld, der Sonnenschein kommt noch. Gott weiß es, mir ist er nie gekommen; hier sitze ich ohne Mann oder Kind, das ich mein eigen nennen könnte, und plage die Leute mit meiner giftigen Zunge. Sie vor allen anderen, Mr. Archie!«

      »Ich weiß wirklich nicht, was du willst«, meinte Archie.

      »So will ich’s denn sagen«, erklärte sie. »Es ist dies und nichts weiter: Ich fürchte mich. Ich fürchte für Euch, Lieber. Vergeßt nicht, Euer Vater ist ein harter Mann, der erntet, wo er nicht gesät, und einsammelt, wo er nicht gepflanzt hat. Reden ist leicht, aber hütet Euch! Ihr werdet eines Tages in sein finsteres Gesicht schauen, wohin schwer und vergeblich blicken ist auf der Suche nach Erbarmen. Ihr erinnert mich an ein schönes Schiff weit draußen auf dem schwarzen und stürmischen Meer – es kann Euch nichts geschehen, solange Ihr still mit Kirstie in Eurer Kammer schwatzt; aber wo werdet Ihr am Morgen sein, in welch fürchterlichem Ungewitter, darinnen Ihr die Berge anflehen werdet, Euch zu bedecken?«

      »Aber Kirstie, du sprichst heute nacht ja in Rätseln, und sehr beredt obendrein«, warf Archie dazwischen.

      »Mein lieber Mr. Archie«, fuhr sie mit veränderter Stimme fort, »Ihr müßt nicht denken, daß ich nicht mit Euch fühle. Ihr müßt nicht denken, daß ich nicht selbst mal jung gewesen bin. Vor langer Zeit, als ich noch ein dummes Ding war, noch keine zwanzig –« sie schwieg und seufzte – »sauber und frisch, mit einem Fuß so leicht wie eine Biene, war ich auch schon groß und stattlich, glaubt mir; ein ansehnliches Frauenzimmer, obwohl mir’s nicht zukommt, Euch das zu sagen – gebaut fürs Kindertragen – und schöne Kinder wären es geworden, und großartig hätte es mir gefallen! Aber ich war jung, Lieber, mit dem hellen Jugendlicht in den Augen, und ließ mir’s wahrhaftig nicht träumen, daß ich dereinst als einsames, runzeliges altes Weib Euch all dies erzählen würde. Und dann, Mr. Archie, ist da ein Bursch’ um mich freien gekommen, wie’s ganz natürlich war. Viele hatten sich vor ihm gemeldet, aber ich mochte sie alle nicht! Doch dieser hier, der hatte eine Zunge, um die Vögel aus der Luft und die Bienen von den Glockenblumen zu locken. Liebe Zeit, liebe Zeit, ist das lang her! Die Leut’ sind seither gestorben und begraben und vergessen worden, und Kinder sind zur Welt gekommen und haben geheiratet und haben selbst Kinder bekommen. Und Wälder sind gepflanzt worden seither und sind gewachsen und zu stattlichen Bäumen geworden, und die Mädels mit ihren Schätzen sitzen jetzt darunter im Schatten; und alte Güter haben die Herren gewechselt, und es hat Krieg und den Lärm des Krieges hier auf der Erde Angesicht gegeben. Und ich bin immer noch hier – eine alte, elende Krähe, die zuguckt und krächzt! Aber Ihr müßt nicht denken, Mr. Archie, daß ich mich nicht noch gut an alles erinnere! Ich lebte damals in meines Vaters Haus; und recht sonderbar ist, daß wir uns im Teufelsmoor trafen. Und glaubt ja nicht, daß ich die schönen Sommertage und die langen Meilen blutroter Heide, das Schreien der Brachvögel und das Mädel bei jenem Stelldichein