Rot und Schwarz. Стендаль. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Стендаль
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961180882
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kühlen, eben den Kopf in das Brunnenbecken am Markt gesteckt hatte. Ihre größte Freude aber an diesem fatalen Hauslehrer, vor dessen Strenge und Grobheit ihr so sehr gebangt hatte, war seine mädchenhafte Schüchternheit. Für das friedsame Gemüt der Frau von Rênal war der Widerspruch zwischen dem, was sie eben noch befürchtet hatte, und dem, was sie jetzt sah, ein wahres Ereignis. Endlich gewann sie ihren Gleichmut zurück. Nun erschrak sie, dass sie mit einem Bauernburschen in Hemdsärmeln an der Haustür stand.

      Ziemlich verlegen sagte sie: »Kommen Sie mit herein, Herr Sorel!«

      Nie in ihrem Leben hatte eine ungetrübt angenehme Empfindung sie so stark erregt, und noch nie war ihr etwas so Erfreuliches plötzlich an die Stelle von Angst und Sorge getreten. Ihre netten Jungen, die sie so hegte und pflegte, sollten also doch keinem schmutzigen und nörgelnden Priester in die Hände fallen!

      Kaum in dem Hausflur, wandte sie sich nach Julian um, der ihr schüchtern folgte. Sie sah sein Staunen beim Anblick des prächtigen Hauses. Auch das gereichte ihm in ihren Augen zum Vorteil. Nur mit etwas konnte sie sich nicht abfinden: sie hatte das Gefühl, als müsse der Erzieher im schwarzen Rock gehen.

      »Können Sie wirklich Lateinisch, Herr Sorel?« begann sie von neuem, indem sie stehen blieb. In all ihrem Glück hatte sie mit einem Male tödliche Angst, es könnte doch nicht so sein.

      Ihre Frage verletzte Julians Stolz. Das Entzücken, in dem er eine Viertelstunde gelebt hatte, war dahin.

      »Gewiss, gnädige Frau«, erwiderte er, wobei er sich Mühe gab, gleichgültig auszusehen. »Ich verstehe Lateinisch ebenso gut wie der Herr Pfarrer; ja, wie er manchmal zu sagen beliebt, sogar besser.«

      Frau von Rênal fand, Julian sähe jetzt recht böse aus. Er stand zwei Schritte von ihr entfernt. Dicht an ihn herantretend, flüsterte sie ihm zu: »Nicht wahr, in den ersten Tagen werden Sie meine Kinder nicht schlagen, auch wenn sie ihre Aufgaben nicht können?«

      Beim Klange der sanften, fast flehentlichen Worte einer so schönen Frau vergaß Julian, was er seiner Würde als Lateiner schuldete. Frau von Rênals Gesicht war ganz nahe dem seinen. Er spürte den leisen Duft weiblicher Sommerkleider. Das verwirrte den armen Bauernjungen im höchsten Maße. Er ward feuerrot, und schweratmend sagte er mit bebender Stimme: »Fürchten Sie nichts, gnädige Frau! Ich werde Ihnen in allem folgsam sein!«

      Erst jetzt, nachdem sie keine Sorge mehr um ihre Kinder hatte, fiel ihr auf, dass Julian ein sehr schöner Mensch war. Seine fast weiblichen Züge und seine verlegene Miene machten auf sie, die selbst so außerordentlich scheu und schüchtern war, durchaus keinen lächerlichen Eindruck. Im Gegenteil, das echt Männliche, das man gewöhnlich von Mannesschönheit verlangt, hätte Frau von Rênal Furcht eingeflößt.

      »Wie alt sind Sie, Herr Sorel?« fragte sie.

      »Bald neunzehn, gnädige Frau!«

      »Mein Ältester ist elf Jahre«, erzählte sie, nunmehr völlig wieder im Gleichgewicht. »Er könnte beinahe noch Ihr Spielkamerad sein. Sie werden ihm Vernunft beibringen. Sein Vater hat ihn einmal strafen wollen, da ist das Kind eine volle Woche krank gewesen. Und doch war es bloß ein ganz leichter Schlag…«

      »Wie anders ist es mir doch ergangen!« dachte Julian bei sich. »Noch gestern hat mich mein Vater geschlagen. Die reichen Leute haben es gut!«

      Frau von Rênal glaubte bereits, in der Seele Julians bis in die geringsten Nuancen Bescheid zu wissen. Sie deutete die Betrübtheit, die ihn sichtlich ergriffen hatte, für Schüchternheit und wollte ihn ermutigen.

      »Wie ist Ihr voller Name, Herr Sorel?« fragte sie, mit einer Innigkeit im Ton, deren Zauber Julian empfand, ohne sich sagen zu können, warum.

      »Ich heiße Julian Sorel, gnädige Frau. Mir ist bange, weil ich zum ersten Male in meinem Leben ein fremdes Haus betrete. Darum bedarf ich Ihrer Fürsprache und in den ersten Tagen in vielen Dingen Ihrer Nachsicht. Ich bin nie in die höhere Schule gegangen. Dazu war ich zu arm. Auch habe ich nie mit andern Menschen gesprochen, außer mit dem Stabsarzt, einem Verwandten von uns. Er war Ritter der Ehrenlegion … Und mit dem Herrn Pfarrer Chélan. Er wird Ihnen Gutes über mich sagen. Meine Brüder haben mich immer verprügelt. Denen dürfen sie keinen Glauben schenken, wenn sie mich schlechtmachen! Verzeihen Sie mir meine Fehler, gnädige Frau! Ich werde nie mit Absicht etwas Schlechtes tun.«

      Während dieser langen Rede gewann Julian seine Selbstbeherrschung wieder. Er schaute Frau von Rênal an. Wirkliche angeborene Anmut ist allgewaltig, zumal wenn sie einem Menschen eigen ist, der gar nicht an sie denkt. Julian, der sehr wohl wusste, was Weibesschönheit ist, hätte in diesem Augenblick geschworen, Frau von Rênal sei erst zwanzig Jahre alt. Urplötzlich durchzuckte ihn der verwegene Gedanke, ihr die Hand zu küssen. Gleich darauf erschrak er freilich über sich selber. Aber dann wieder sagte er sich: »Es wäre feig von mir, wenn ich eine mir vielleicht nützliche Tat nicht ausführte. Es wird die Missachtung verringern, die diese schöne Frau gegen mich armen Burschen, der eben der Sägemühle entronnen ist, wahrscheinlich hegt.« Sein Mut wuchs wohl ein wenig, weil er sich erinnerte, dass seit einem halben Jahre bisweilen sonntags von hübschen Mädchen hinter ihm getuschelt ward, er sei ein hübscher Kerl.

      Wie er so mit sich kämpfte, unterwies ihn Frau von Rênal mit ein paar Worten über die Art, wie er sich bei den Kindern einführen solle. Die Gewalt, die er sich antat, machte ihn von neuem leichenblass. Nur mit Mühe brachte er die Worte heraus: »Gnädige Frau, niemals werde ich Ihre Kinder schlagen. Das schwöre ich bei Gott!«

      Bei diesen Worten wagte er Frau von Rênals Hand zu erfassen und an seine Lippen zu führen.

      Die Geste hatte sie überrascht. Im Nachdenken ward sie betroffen. Es war ein sehr heißer Tag. Deshalb trug sie die Arme bloß, nur von einem Schal bedeckt. Als Julian ihre Hand an seinen Mund zog, war der eine ganz nackt gewesen. Alsbald zürnte sie sich selbst. Es dünkte sie, dass sie viel schneller hätte empört sein müssen.

      In diesem Augenblick trat Herr von Rênal aus seinem Arbeitszimmer. Er hatte die Stimmen gehört. In dem salbungsvollen und väterlichen Ton, den er annahm, wenn er im Amt eine Trauung vollzog, sprach er zu Julian: »Es ist höchst wichtig, dass ich mit Ihnen rede, ehe die Kinder Sie zu sehen bekommen!«

      Damit ließ er Julian in sein Zimmer eintreten. Seine Frau wollte die beiden allein lassen, aber Herr von Rênal hielt sie zurück. Nachdem die Tür geschlossen war, setzte er sich gravitätisch. Sodann begann er: »Der Herr Pfarrer hat mir gesagt, Sie seien ein tüchtiger Mensch. Es wird Sie hier jedermann mit Achtung behandeln, und wenn ich mit Ihnen zufrieden bin, werde ich Ihnen später behilflich sein, damit Sie einen kleinen festen Posten bekommen. Ich will, dass Sie fortan weder mit Ihren Verwandten noch mit Ihren Bekannten verkehren. Das Gehabe dieser Leute ist nichts für meine Kinder. Hier sind zwölf Taler für den ersten Monat! Aber ich verlange Ihr Ehrenwort, dass Ihr Vater keinen Groschen davon bekommt.«

      Der Bürgermeister war auf den alten Sorel schlecht zu sprechen, weil er ihn bei dem Handel doch übertrumpft hatte.

      »Zuvörderst, Herr Sorel… ich habe nämlich den Befehl gegeben, dass Sie hier jedermann mit Herr anzureden hat. Sie werden die Vorteile, in ein vornehmes Hauswesen gekommen zu sein, bald verspüren. Was ich sagen wollte, Herr Sorel: Es schickt sich nicht, dass die Kinder Sie in Hemdsärmeln sehen … Sind die Dienstboten ihm so begegnet?«

      Die letzte Frage richtete er an seine Frau.

      »Nein, mein Lieber«, erwiderte sie versonnen.

      »Umso besser. Hier, ziehen Sie das mal an!« Er reichte dem erstaunten jungen Mann einen Rock von sich. »So! Jetzt geht's zum Schneider Durand!«

      Als Herr von Rênal mit dem neuen, nunmehr ganz in Schwarz gekleideten Hauslehrer nach einer reichlichen Stunde zurückkam, fand er seine Frau noch immer auf dem nämlichen Flecke sitzen. In Julians Gegenwart fühlte sie sich beruhigt. Während sie ihn musterte, verlor sie jede Angst vor ihm. Julians Gedanken aber weilten nicht bei ihr. Trotz aller seiner Menschen- und Schicksalverachtung war er in diesem Augenblicke seelisch ein Kind. Es war ihm, als sei in den drei Stunden, seit er voll Hangen und Bangen in der Kirche gesessen, ein jahrelanges Stück Leben vergangen. Da bemerkte er die eisige Miene der Frau von Rênal. Er begriff, dass sie ihm zürnte, weil er ihr die Hand zu küssen gewagt.