Luisas Chance. Carola Wegerle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carola Wegerle
Издательство: Bookwire
Серия: edition Carola Wegerle
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783956165047
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ihm. Ob ich kämpfen muss? fragt sie sich. Boxen und so? Da war doch gerade dieser Film im Kino mit der erfolgreichen Boxerin … Die Matratze haben sie sicher hingelegt, damit man sich nicht weh- tut, wenn man hinfällt, vermutet sie.

      Der Mann kniet sich auf die Matratze. Luisa bleibt erstmal stehen. „Komm‘ her“, sagt der Mann. Zögernd setzt sie sich zu ihm. „Unser Stück ist neu und sehr traurig“, erklärt er ihr mit sehr traurigen Augen, die sie intensiv anblicken. Fast durch mich durch, denkt Luisa. Sie fühlt sich nicht besonders wohl. Soll ich ihn zurück angucken oder besser nicht, überlegt sie fieberhaft. Doch, ja, das macht man einfach, sonst ist es unhöflich. Ihre Gedanken jagen sich, während der Mann redet und redet. Ob die hinter dem Tisch wieder irgendwas an ihr süß finden? Sie hat auf einmal klatschnasse Hände. Was tut sie eigentlich hier? Was für eine blöde Idee war das denn, hierherzukommen? Johanna spielen? Darum ging es hier ja wohl nicht.

      „Es geht um einen Juden“, fährt Tobias ernst fort, „einen jungen Juden, der vor ungefähr hundert Jahren in einer wohlhabenden Familie aufwächst. Das Stück beginnt 1913. Er emigriert später in die USA und bringt sich dort in einem Hotelzimmer um.“ Luisas Augen werden riesengroß. Wie furchtbar! Das soll ein Theaterstück sein? Das wollen sie spielen? Wie sich jemand umbringt? Erschrocken hält sie den Atem an. Du bist ein freier Mensch, hat Verena gesagt. Ja, denkt sie, ich kann aufstehen und gehen, einfach gehen, wenn

      ich keine Lust mehr habe, ich bin ein freier Mensch. Doch sie bleibt sitzen. Erstmal.

      „Sein Problem ist, dass er sich ganz als Deutscher fühlt und nicht in sein Hirn bekommt, dass Hitler die Juden hasst. – Ähm, habt ihr das schon in Geschichte gehabt?“ unterbricht er sich. Luisa schüttelt den Kopf.

      „Noch nicht, aber das mit den Juden weiß ich schon.“

      „Okay“, sagt der Regisseur und blickt sie noch intensiver an. „Der Mann hat eine Schwester, die er sehr liebt. Er liebt sie mehr als eine Schwester, verstehst du?“ Luisa wird rot, ist sich aber nicht sicher, wie er das meint.

      „Diese Schwester wird von einer Schauspielerin gespielt, wenn sie älter ist. Wenn sie in deinem Alter ist, spielst du sie. - Du bist 14 und liebst deinen Bruder auch sehr. Ihr habt einen Ausflug mit der Familie gemacht. Du und dein Bruder, ihr habt Federball gespielt – kannst du das?“

      Luisa nickt. Sie lächelt. Federball kann sie gut! Soll sie Federball spielen? Hier, gleich jetzt? Ihre Augen blitzen unternehmungslustig. Vielleicht macht Theater ja doch Spaß?

      „Gut“, fährt der Regisseur fort, „und dann seid ihr müde und liegt im Gras und ruht euch aus – Konstantin!“ ruft er. Ein blonder Schauspieler taucht hinter einem Paravent auf, der an der Seite des Raumes steht. Er sieht wie ein Filmstar aus, findet Luisa.

      Leider benimmt er sich auch wie ein verwöhnter Star. Er blickt sie nicht an, lässt sich nur mit leichtem Stöhnen auf die Matratze fallen.

      „Leg dich zu ihm“, sagt der Regisseur, „kuschle dich an ihn.“ Luisa glaubt, sie hat sich verhört. Sie soll was tun? Der Schauspieler starrt an die Decke, der Blick des Regisseurs schweift in die Ferne. „Stell‘ dir vor, du bist ein wenig müde, es ist heiß, du hast Erdbeerbowle getrunken und bist ein bisschen beschwipst.“ Luisa schluckt. Er meint es ernst. Sie blickt den blonden Schauspieler an, der immer noch an die Decke starrt, dann diesen Mann, der Tobias heißt, und sie hat wirklich das Gefühl, ein bisschen beschwipst zu sein. Dann blickt sie zu den Leuten am Tisch, für die die kleine Gruppe auf der Matratze sehr interessant zu sein scheint.

      Ihr wird heiß. Sie soll sich an den fremden Mann kuscheln? Nein. Das will sie nicht. Sie ist ein freier Mensch, sie kann gehen, wenn sie keine Lust hat. Abrupt steht sie auf. Einfach rausgehen? Ihre Beine sind plötzlich wie gelähmt. Und ihr Kopf ist – nur noch Nebel.

      „Lass mal, Tobias“, sagt die Frau, die sie vorhin so süß gefunden hat. Sie steht jetzt neben der Matratze. Wann ist sie aufgestanden? Sanft berührt sie Luisas Schulter.

      „Keine Angst“, lächelt sie, „das hier ist ein anständiges Theater. So Sachen mit Sex und so zeigen wir hier nicht. Das verlangt keiner von dir. Ich bin Ursula und leite dieses Haus.“ Ihre Augen sind warm, stellt Luisa fest und entspannt sich ein bisschen.

      „Der Mann - im Stück dein Bruder - erzählt die Geschichte seiner Schwester, die mit 14 anmutig wie ein Schmetterling ist und später zu einer schönen und sensiblen Frau heranwächst. Es ist eine traurige Geschichte, aber auch eine sehr poetische, wunderbare Geschichte. Du bekommst das Stück zu lesen, wenn du die Rolle – “

      „Wie viele sind es noch?“ unterbricht der blonde Mann und gähnt. „Ihr wisst, ich habe Abendvorstellung.“

      „Noch ein paar Minuten Geduld, Konstantin“, sagt Ursula bestimmt.

      Tobias guckt verstört von Ursula zu Konstantin und dann zu Luisa. Ihr Vater hat den gleichen Blick, wenn ein Drogenabhängiger, den er nach vielen Monaten zermürbender Psycho-Arbeit von der Spritze wegbekommen hat, wieder anfängt zu fixen. Dann versteht er die Welt nicht mehr.

      Aber Luisa versteht Tobias. Sie kniet sich wieder hin, lächelt ihn an. Er atmet erleichtert auf.

      „Was ich sagen wollte, Luisa“, fährt Ursula, nun wieder mit ihrer warmen Stimme, fort, „alles wird hier nur angedeutet, sehr fein angedeutet. Keiner wird dich irgendwie komisch anfassen, verstehst du?“

      „Bestimmt nicht“, pflichtet Konstantin bei und gähnt schon wieder. „ich denk‘ grad nur an Essen. Ich muss was essen vor der Vorstellung!“

      Ursula seufzt. „Wir lassen was kommen für dich, aus den Drei Masken.“ Konstantin verzieht das Gesicht. Die hinter dem Tisch möchten plötzlich auch etwas zu essen. Tobias reibt sich fahrig die Nase.

      Fast hätte Luisa den Kopf geschüttelt. Sind die kindisch, denkt sie und muss ein Lächeln unterdrücken. Gut, kuscheln … Sie wird es jetzt einfach versuchen.

      „Also kuscheln“, sagt sie betont munter, obwohl ihr gleich wieder sehr flau im Magen wird, und legt sich neben den blonden Mann. Konstantin. Der schiebt sofort seinen Arm unter ihr durch. Es wirkt, als hätte er das schon tausendmal gemacht. Na ja, 27mal, kichert Luisa innerlich. Nein, Moment, vor ihr ist doch Nummer 23 rausgekommen, warten 24, 25 und 26 womöglich die ganze Zeit? Aber warum haben die sie vorgezogen? Ist sie vielleicht doch der Typ, den sie suchen? 14 Jahre, poetisch, Jüdin, 1913, schwirrt es ihr durch den Kopf, die wollen gar keine, die älter aussieht und geschminkt ist und knappe Hüfthosen trägt. Sie holt tief Luft.

      Ursula setzt sich wieder hinter ihren Tisch, und Luisa kuschelt sich an Konstantin. Fragend blickt sie Tobias an. Er sieht glücklich aus.

      Konstantin spielt mit ihren Haaren. „Ich gehe nicht nach Amerika“, sagt er leise, und es klingt so echt, dass Luisa fragt: „Warum nicht?“ Tobias blickt sie gespannt an. „Wenn uns Meere trennen, kann ich nicht atmen“, erwidert Konstantin. Zum ersten Mal blickt er sie jetzt an. Luisa hält überrascht den Atem an, weil so viel Schmerz und – Liebe in Konstantins Blick liegt.

      „Und ich will auch nicht atmen ohne dich“, fügt er hinzu, sehr, sehr leise. Luisa macht sich Sorgen um ihn. Sie dreht sich auf den Bauch und guckt Konstantin ernst an. „Das musst du aber“, sagt sie sehr überzeugt. „Sonst kleben wir ja die ganze Zeit zusammen.“

      Tobias atmet hörbar aus, und seine Augen glänzen jetzt so warm wie Ursulas.

      Luisa staunt: eine unsichtbare Seifenblase umhüllt sie alle drei wie eine riesige Wunderkugel. In diesem verzauberten Raum ist alles möglich, fallen ihr Worte ein, ist sie plötzlich nicht mehr Luisa, doch, schon, aber auch die Schwester von Konstantin oder dem Mann, den er spielt. Und der - hat Hunger. Sein Magen knurrt so laut, dass die Blase platzt. Der blonde Schauspieler richtet sich auf. „Das geht doch nicht. Das ist ja - wie mit einem Kind. So kann ich nicht spielen.“ Er ist aufgestanden und geht jetzt wie ein eingesperrtes Tier auf und ab, ballt seine Fäuste und spreizt dann die Finger. „Wieso muss ich als Erwachsener die Rückblende spielen, aber meine Schwester wird ersetzt? Durch ein Kind!“

      Luisa schluckt. Das war ein harter Ball in ihren