Es war doch etwas höchst Seltsames um diese Wand. Der Vater – es war schon so weit gekommen, den Vater als den einzigen, weiteren Bewohner seiner Welt zu erkennen, als ein der Mutter ähnliches Geschöpf, das nahe am Licht schlief und Fleisch brachte –, der Vater hatte die sonderbare Gewohnheit, durch die ferne, weiße Wand zu verschwinden. Das konnte das graue Wölflein nicht begreifen. Zwar erlaubte ihm die Mutter nie, sich jener Wand zu nähern, doch war es den andern Wänden nahe gekommen und hatte eine harte Mauer am Ende seiner kleinen, zarten Nase angetroffen. Und das hatte wehe getan, also ließ es nach einigen Versuchen die Wände in Ruhe. Ohne darüber nachzudenken, hielt es das Verschwinden des Vaters durch die Wand für eine Eigentümlichkeit desselben, wie Milch und halbverdautes Fleisch es bei der Mutter war. Übrigens dachte das Wölflein nicht weiter darüber nach, wenigstens nicht nach Art eines Menschen. Sein Gehirn arbeitete in unklarer Weise, wenn auch die Schlußfolgerungen ebenso scharf und richtig waren, wie die eines Menschen. Es nahm jedoch die Dinge hin, ohne sich um das Warum und das Wozu zu kümmern. Seine Idee war, sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, warum, sondern wie etwas geschah. Das genügte ihm allein. So nahm es an, als es mehrmals mit der Nase gegen die hintere Wand gerannt war, daß es durch Mauern nicht verschwinden könnte, wohl aber könnte es der Vater. Aber das Verlangen, den Unterschied zwischen sich und dem Vater ausfindig zu machen, quälte es nicht im mindesten; Logik und Physik gehörten nicht zu den Tätigkeiten seines Gehirns.
Wie die meisten Geschöpfe der Wildnis lernte es früh den Hunger kennen. Es kam eine Zeit, wo das Fleisch nicht nur mangelte, sondern wo auch die Milch in der Mutterbrust versiegte. Zuerst winselten und schrieen die Jungen, es dauerte jedoch nicht lange, so überkam sie die Sucht zu schlafen, und nun schlummerten sie meistens. Da gab es kein Spiel mehr, keinen Zank, keine drolligen Wutanfälle, keinen Versuch zu knurren, auch hörten die Wanderungen auf Abenteuer nach der fernen, weißen Wand auf. Die Jungen schliefen, während das Leben nur schwach in ihnen glimmte und allmählich niedersank. Einauge war der Verzweiflung nah. Er suchte weit und breit, er schlief nur noch wenig im Lager, das nun elend und trübselig geworden war. In den ersten Tagen nach der Geburt der Jungen war Einauge mehrmals zum Indianerlager hingewandert und hatte Kaninchen aus den Schlingen gestohlen, als aber der Schnee schmolz und die Ströme auftauten, zogen die Indianer fort, und auch diese Nahrungsquelle versiegte.
Als das graue Junge wieder ins Leben zurückkehrte und an der fernen, weißen Wand Interesse zeigte, fand es die Bevölkerung seiner Welt sehr zusammengeschrumpft. Nur noch eins der Geschwister war übrig, alle andern waren fort; und als es wieder kräftiger wurde, war es gezwungen, allein zu spielen, denn auch die letzte Schwester lief nicht mehr herum und hob nicht einmal mehr den Kopf empor. Zwar wurde sein Körperchen durch das Fleisch, das es nun bekam, runder, allein für jene war die Nahrungsfülle zu spät gekommen. Sie schlief nur noch, ein winziges Skelett aus Haut und Knochen, in dem die Lebensflamme schwach und schwächer flackerte und endlich ausging.
Dann kam eine Zeit, wo das graue Wölflein den Vater in der Wand nicht mehr erscheinen und verschwinden sah, wo er sich nicht am Eingange zum Schlafe niederlegte. Dies geschah am Ende einer zweiten, doch weniger harten Hungersnot. Die Wölfin wußte, warum Einauge nicht zurückgekommen war, allein wie sollte sie das, was sie gesehen hatte, dem grauen Jungen mitteilen? Denn als sie selber die linke Gabel des Flusses nach Beute hinaufgegangen war, da hatte sie dort, wo die Luchsin wohnte, Einauges einen Tag alte Spur gefunden und am Ende derselben alles, was von ihm übrig war. Es waren da noch viele Zeichen des Kampfes, der ausgefochten worden war, und des Rückzuges der Luchsin in ihr Lager nach gewonnenem Siege, vorhanden. Bevor die Wölfin umkehrte, hatte sie dies Lager gefunden, aber es waren sichere Anzeichen da, daß die Luchsin drinnen sei, und so hatte sie sich nicht hineingewagt.
Danach vermied die Wölfin den linken Flußarm auf ihren Jagdzügen. Sie wußte wohl, daß in dem Lager der Luchsin Junge waren, und sie kannte jene als ein starkes, heimtückisches Geschöpf und als eine tüchtige Streitkraft. Zwar hätten ein halb Dutzend Wölfe einen fauchenden Luchs vor sich her auf einen Baum hinauftreiben können, doch für einen Wolf allein war es eine gefährliche Sache, es mit einer Luchsin aufzunehmen, die Junge hatte.
Aber Wildnis bleibt Wildnis, und die Mutterliebe bleibt die schützende, verteidigende Liebe, ob in der Wildnis oder außerhalb derselben, und es sollte eine Zeit kommen, wo die Wölfin sich um des grauen Jungen willen auch den linken Flußarm hinaufwagen und dem Lager in den Felsen und dem Zorn der Luchsin Trotz bieten sollte.
4. Kapitel. Die Wand der Außenwelt
Um die Zeit, da die Mutter anfing, zu ihren Jagdzügen die Höhle zu verlassen, hatte das graue Junge sich das Verbot, den Eingang zu meiden, wohl gemerkt. Nicht nur war ihm dasselbe von der mütterlichen Nase und Pfote häufig nachdrücklich eingeschärft worden, sondern in ihm hatte sich auch der Instinkt der Furcht entwickelt. Allerdings war in seinem kurzen Leben in der Höhle nie etwas passiert, was ihm Furcht eingejagt hätte, dennoch war das Gefühl da, war ihm von Tausenden seiner Vorfahren vererbt worden. Direkt war es Erbschaft von Einauge und der Wölfin, allein sie hatten es von all den Generationen von Wölfen geerbt, die vor ihnen gelebt hatten. Furcht – das Erbe der Wildnis, dem kein Geschöpf entgeht –, kann nicht für ein Gericht Linsen veräußert werden.
So also kannte das Graue die Furcht, ohne zu wissen, was dieselbe eigentlich bedeute. Möglicherweise sah es dieselbe als eine Schranke des Lebens an, denn es hatte schon gelernt, daß es solche Schranken gab. Es kannte den ungestillten Hunger, die Härte der Höhlenwand, den derben Stoß der mütterlichen Nase, den hurtigen Schlag ihrer Pfote, – all das hatte ihm gezeigt, daß nicht alles in der Welt Freiheit sei, sondern daß es im Leben Hemmnisse gab. Diese Hemmnisse waren für ihn Gesetze; war man diesen gehorsam, so entging man der Strafe und war glücklich. Nicht, daß es sich dies wie ein Mansch überlegt hätte, sondern es teilte die Dinge in solche ein, die wehe taten, und in solche, die angenehm waren, und danach vermied es die einen, um die Annehmlichkeiten der andern zu genießen.
So kam es, daß es, dem Gebot der Mutter und dem Gesetz jenes geheimnisvollen Schrecknisses, der Furcht, gehorsam sich von dem Eingang der Höhle fern hielt. Diese blieb für ihn die weiße, lichte Wand. War die Mutter abwesend, so schlief es die meiste Zeit, und in den Zwischenzeiten verhielt es sich ruhig, indem es den Kitzel im Halse unterdrückte, der sich in winselnden Tönen Luft machen wollte.
Als es so einst wachend dalag, hörte es in der weißen Wand einen seltsamen Ton. Es wußte nicht, daß ein Vielfraß draußen stand und zitternd ob der eigenen Kühnheit vorsichtig den Inhalt der Höhle beschnupperte. Das Wölflein wußte nur, daß der Ton seltsam klänge wie etwas, was es noch nie gehört hätte, und darum war es für es voller Schrecken, denn das Unbekannte vor allem flößte ihm Furcht ein.
Das Haar auf seinem Rücken richtete sich lautlos empor. Was wußte es davon, daß bei irgend einem Ton sein Haar sich emporrichten sollte? Das war kein angeborener Instinkt, nur der sichtbare Ausdruck der ihm innewohnenden Furcht, für die es in seinem Leben keine Erklärung gab. Auch war die Furcht von einem wilden Instinkt, dem, sich zu verbergen, begleitet. Das Wölflein war außer sich vor Schreck, doch blieb es so regungslos und still, als ob es versteinert oder tot wäre. Als die Mutter heimkam, knurrte sie, als sie die Spur des Vielfraßes fand. Sie eilte in die Höhle und leckte und liebkoste ihr Junges voll ungewöhnlicher Zärtlichkeit, und dieses fühlte, daß es einer großen, unbekannten Gefahr entgangen sei.
Aber noch andere Kräfte arbeiteten in dem jungen Wölflein, vor allem seine zunehmende Stärke. Instinkt und mütterliches Verbot verlangten von ihm Gehorsam, aber sein Wachstum drängte ihn zum Ungehorsam. Die Mutter und seine Furcht warnten ihn vor der weißen Wand, aber Wachstum ist Leben, und das Leben strebt von jeher nach dem Lichte. Die wachsende Lebenskraft in ihm ließ sich nicht mehr eindämmen, sie stieg mit