Der flüchtende Gauner war auf dem besten Weg, zwischen den Korallenskulpturen zu verschwinden. Scharf nach rechts abbiegend, erhöhte Ulysses seine Geschwindigkeit und rannte auf die schimmernden Kaskaden zu. Dort hoffte er auf eine Möglichkeit, die Verfolgung zu beenden.
Er setzte über den niedrigen schmiedeeisernen Zaun, welcher die Korallenbetten umschloss und schoss über die Spitze der Kaskade. Er befand sich nun in gerader Line zu dem fliehenden Rüpel. Dann sprang er. Sein linkes Knie knirschte, als er auf dem pinkfarbenen Kiesweg zwei Meter tiefer aufkam. Der Adrenalinrausch erlaubte es ihm, den Schmerz kurzfristig beiseitezuschieben. Dafür würde er später zahlen müssen.
Ulysses schaffte es noch, seine Fassung rechtzeitig wiederzugewinnen, um den in diesem Moment um die Ecke der Kaskade stürmenden Dieb direkt in seinen ausgestreckten Arm rennen zu lassen. Sein Arm, hart wie Stahl, traf den Mann im Nacken. Er schlug mit wirbelnden Beinen hart auf. Die Tasche flog aus seiner Hand. Ein Schnappverschluss öffnete sich dabei und eine Handvoll Unterlagen segelte durch die Luft. Wie übergroßes Konfetti fielen sie auf den Weg.
Der Dandy schnappte die Tasche geschickt aus der Luft. Er erwischte sie am Schultergurt und ließ sie lässig über seinen Arm gleiten.
Er schaute auf den am Boden kauernden Gauner hinunter, welcher sich nach Luft schnappend an die Kehle griff. Ulysses richtete sein Jackett und strich über seine Krawatte.
»Ich vermute, dass das hier nicht dir gehört«, sagte er, während er Miss Celestes Tasche über den röchelnden Mann hielt. Der Kerl, unrasiert und mit jeder Faser seines Körpers wie ein typischer Verbrecher aussehend, glotzte ihn mit großen Augen an.
Ulysses sammelte die losen Akten auf. Dabei öffnete er vorsichtig die einzelnen Hefter, um sicherzugehen, dass alles wieder an seinem Platz war.
Eine Gruppe Parkwächter schlitterte über den Schotter.
»Gentlemen«, sagte Ulysses und warf einen unbeeindruckten Blick auf die verspäteten Helfer. »Ich glaube, ich kann diese unangenehme Situation nun in Ihre Hände geben, denken Sie nicht auch?«
Als Ulysses dorthin zurückkehrte, wo vor kurzer Zeit das Verbrechen stattgefunden hatte, sah er Miss Celeste nervös auf einer Parkbank sitzen. Glenda schien sie geradewegs zu erdrücken, wie sie ihren Arm um die schmalen Schultern der anderen Frau zum Trost gelegt hatte. Jonah Carcharodon saß mit finsterem Gesicht in seinem Rollstuhl. Kein freundliches Wort optimistischer Ermunterung verließ seinen Mund.
Als Miss Celeste Ulysses mit der Tasche in der Hand zurückkommen sah, entspannte sie sich sichtlich. Ein unerwartetes Lächeln erschien auf ihrem tränenverschmierten Gesicht. Es war wie ein leuchtender Sonnenstrahl, der plötzlich hinter einer Wolke hervorkam.
»Oh, ich danke Ihnen! Vielen Dank, Mr. Quicksilver!«, strömte es aus ihr hervor. »Wenn sie verloren gewesen wäre … Ich weiß nicht, was ich dann getan hätte«, stammelte sie, während ihr klarzuwerden schien, wie nahe sie an einem Desaster vorbeigeschrammt war.
So viel hatte sie in Ulysses Gegenwart noch nie gesprochen und für einen Moment trafen sich ihre Blicke.
Wie auch immer. Was ihren Arbeitgeber anbelangte, hätten Ulysses Bemühungen genauso für die Katz sein können, auch wenn sich Ulysses sicher war, dass der Verlust von Miss Celestes Differenzmaschine und ausgewählter Dokumente für Carcharodon ein ebenso großer Schaden gewesen wäre, wie für dessen Assistentin.
»Vorwärts. Das Schauspiel ist vorbei. Können wir nun endlich gehen?«, schnappte Carcharodon.
»Sind Sie in Ordnung, Miss Celeste?«, fragte Ulysses aufrichtig besorgt und ignorierte ihren Chef.
»J-ja, danke sehr, Mr. Quicksilver«, erwiderte sie mit einem erneuten Lächeln. Ihre Augen richteten sich zu Boden. »Danke für Ihre Besorgnis, aber nun entschuldigen Sie mich bitte. Wir müssen weiter. Ich habe Mr. Carcharodon weit mehr als nötig aufgehalten.«
Ulysses spürte Ärger über Carcharodons Verhalten gegenüber Miss Celeste in sich wachsen. Er spürte den Drang, etwas zu sagen, um dem Mann dessen egozentrische und unsensible Art vorzuhalten.
Doch dieser Moment verging, als Glenda sich wieder seinen Arm schnappte und auf Zehenspitzen »Sie sind mein Held« in sein Ohr flüsterte. Er konnte ihren berauschenden Duft riechen, so nah war sie ihm. Die Berührung ihres Atems auf seinem Gesicht jagte einen wohligen Schauer durch seinen noch vom Adrenalin berauschten Körper.
Ulysses schaute sie mit einem Lächeln an. Wieder einmal wurde er durch ihre augenscheinliche Unschuld, ja fast schon naive Reaktion auf die stattgefundenen Ereignisse entwaffnet.
»Sie sehen aus, als könnten Sie einen Drink gebrauchen«, sagte sie.
»Damit liegen Sie vermutlich richtig«, stimmte Ulysses zu und fühlte in Gedanken bereits die nektarsüße Schärfe von Cognac auf seinen Geschmacksknospen. »Haben Sie Lust mich zu begleiten? Wie ich hörte, gibt es am Strand diverse Bars mit Meeresblick.«
»Das hört sich großartig an.« Glenda senkte ihr Kinn und schaute ihn mit einem verlockenden Hundeblick an. »Aber ich muss leider ein paar Papiere einreichen. Wir haben ein Büro hier, wussten Sie das? Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel.«
Ulysses war sprachlos. »N-nein, nicht wirklich«, stammelte er, vollständig auf dem falschen Fuß getroffen. »Sehen Sie die Einladung als Gutschein an. Sie wissen ja, was man über einsames Trinken sagt.«
»Ich sehe Sie dann später.« Ein eindeutiges Funkeln lag in ihren Augen. »Zurück auf dem Schiff. Ich bin mir sicher, dass Sie Ihren Spaß bei einem exklusiven Interview über Ihre Heldentaten haben werden. In einer etwas gemütlicheren Umgebung.«
Immer noch von seiner Jagd durch den Park aufgekratzt, fühlte Ulysses ein Kribbeln tief in seinem Inneren. »Ich kann es kaum erwarten«, entgegnete er errötend.
Sie hauchte ihm einen zögerlichen Kuss auf die Lippen. »Genau wie ich«, raunte sie. »Handeln Sie sich keinen weiteren Ärger ein, damit bis zum Interview nichts mehr dazwischenkommt.«
Nachdem Glenda gegangen war, fühlte sich Ulysses zu seiner eigenen Überraschung auf einmal gelangweilt. So schön die Korallengärten auch waren, hatte er doch kein großes Interesse daran, weitere Touristenattraktionen in Pacifica zu besichtigen. So schlug er lediglich die Zeit tot, bis sich die Gelegenheit für etwas Spannenderes bieten würde.
Ulysses dachte noch einmal über die Ereignisse im Park nach. Dann traf er einen Entschluss. Wenn man eine Stadt wirklich verstehen wollte, musste man herausfinden, wie diese tickte. Genau wie bei einem menschlichen Körper musste man die Oberfläche entfernen, um auf die Innereien schauen zu können.
Er hatte genug Zeit damit verbracht, das zu sehen, was man Besucher sehen lassen wollte. Nun war es an der Zeit, sich die schmutzige Seite der Medaille anzuschauen. Die düstere Realität des Lebens in der Stadt unter dem Meer.
Ulysses verschnaufte im Schatten eines rostigen Bogens und verharrte bewegungslos, als Doctor Ogilvy anhielt und einen besorgten Blick über seine Schulter warf. Das tat er zum wiederholten Male, seit Ulysses ihm an den Warenhäusern und anschließend an den Docks vorbei tiefer in die Stadt folgte. Ulysses war sich dessen bewusst, dass er in seinem fein geschnittenen farbenprächtigen Anzug nicht wirklich mit dem Hintergrund verschmelzen konnte und ihn dieser nunmehr eher behinderte. Aber Ogilvy hatte mit seinem ungewöhnlichen Benehmen seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Was zum Teufel hatte er hier unten zu suchen?
Ulysses war durch die Opiumhöhlen der Stadt geschlendert, welche in einer der äußeren Kuppeln der komplexen Metropolen lagen. Dort hatte der anscheinend stets kränkelnde Schiffsarzt seine Aufmerksamkeit erregt. Somit hatte Ulysses einen perfekten Zeitvertreib in Pacifica gefunden. Es dauerte gar nicht lange, bis die Schritte des Doctors sie hierhergeführt hatten.
Ogilvy hielt vor einem anscheinend verlassenen und geschlossenen Ladenlokal. Er schaute sich erneut