Er wußte nur, daß er etwas noch Undeutlichem auf einem Wege gefolgt war, der tief in sein Inneres führte; und er war dabei ermüdet. Er hatte sich gewöhnt, auf außerordentliche, verborgene Entdeckungen zu hoffen, und war dabei in die engen, winkligen Gemächer der Sinnlichkeit gelangt. Nicht aus Perversität, sondern infolge einer augenblicklich ziellosen geistigen Situation.
Und gerade diese Untreue gegen etwas Ernstes, Erstrebtes in sich erfüllte ihn mit einem unklaren Bewußtsein von Schuld; ein unbestimmter, versteckter Ekel verließ ihn niemals ganz, und eine ungewisse Angst verfolgte ihn wie einen, der im Dunkel nicht mehr weiß, ob er noch seinen Weg unter den Füßen hat oder wo er ihn verloren.
Er bemühte sich dann überhaupt nichts zu denken. Stumm und betäubt und aller früheren Fragen vergessend, lebte er dahin. Der feine Genuß an seinen Demütigungen wurde immer seltener.
Noch ließ er ihn nicht, aber doch setzte Törleß am Ende dieser Zeit keinen Widerstand mehr entgegen, als über Basinis Schicksal weiter beschlossen wurde.
Dies geschah einige Tage später, als sie zu dritt in der Kammer beisammen waren. Beineberg war sehr ernst.
Reiting fing zu sprechen an: «Beineberg und ich glauben, daß es auf die bisherige Weise mit Basini nicht mehr weiter geht. Er hat sich mit dem Gehorsam, den er uns schuldet, abgefunden und leidet nicht mehr darunter; er ist von einer frechen Vertraulichkeit wie ein Bedienter. Es ist also an der Zeit, mit ihm einen Schritt weiter zu gehen. Bist du einverstanden?»
«Ich weiß doch noch gar nicht, was ihr mit ihm tun wollt.»
«Das ist auch schwer zurechtgelegt. Wir müssen ihn noch weiter demütigen und herunterdrücken. Ich möchte sehen, wie weit das geht. Auf welche Weise, ist freilich eine andere Frage. Ich habe allerdings auch hierüber einige nette Einfälle. Wir könnten ihn zum Beispiel durchpeitschen, und er müßte Dankpsalmen dazu singen; den Ausdruck dieses Gesanges anzuhören wäre nicht übel, – jeder Ton gewissermaßen von einer Gänsehaut überlaufen. Wir könnten ihn die unsaubersten Sachen apportieren lassen. Wir könnten ihn zu Božena mitnehmen, dort die Briefe seiner Mutter vorlesen lassen, und Božena möchte schon den nötigen Spaß dazu liefern. Doch das alles läuft uns nicht davon. Wir können es uns ruhig ausdenken, ausfeilen und Neues dazufinden. Ohne die entsprechenden Details ist es vorderhand noch langweilig. Vielleicht liefern wir ihn überhaupt der Klasse aus. Das wäre das gescheiteste. Wenn von so vielen jeder nur ein wenig beisteuert, so genügt es, um ihn in Stücke zu zerreißen. Überhaupt habe ich diese Massenbewegungen gern. Keiner will Besonderes dazutun, und doch gehen die Wellen immer höher, bis sie über allen Köpfen zusammenschlagen. Ihr werdet sehen, keiner wird sich rühren, und es wird doch einen Riesensturm geben. So etwas in Szene zu setzen, ist für mich ein außerordentliches Vergnügen.»
«Was wollt ihr aber zunächst tun?»
«Wie gesagt, ich möchte mir das für später aufsparen, vorderhand würde es mir genügen, ihn soweit zu bringen, – durch Drohungen oder Prügel, – daß er wieder zu allem ja sagt.»
«Wozu?» entfuhr es Törleß. Sie sahen sich fest in die Augen.
«Ach, verstell dich nicht; ich weiß sehr wohl, daß du davon unterrichtet bist.» Törleß schwieg. Hatte Reiting etwas erfahren? … Klopfte er nur auf den Strauch?
«… Doch noch von damals her; Beineberg hat dir doch gesagt, wozu sich Basini hergibt.»
Törleß atmete erleichtert auf.
«Na, mach nur nicht so erstaunte Augen. Damals hast du sie auch so aufgerissen, und es handelt sich doch um nichts gar so Arges. Übrigens hat mir Beineberg gestanden, daß er dasselbe mit Basini tut.» Dabei blickte Reiting mit einer ironischen Grimasse zu Beineberg hinüber. Das war so seine Art, einem anderen ganz öffentlich und ungeniert ein Bein zu stellen.
Aber Beineberg erwiderte nichts; er blieb in seiner nachdenklichen Stellung sitzen und schlug kaum die Augen auf.
«Na, möchtest du nicht mit deiner Sache herausrücken?! Er hat nämlich eine verrückte Idee mit Basini vor und will sie durchaus ausführen, ehe wir anderes unternehmen. Aber sie ist ganz amüsant.»
Beineberg blieb ernst; er sah Törleß mit einem nachdrücklichen Blicke an und sagte: «Erinnerst du dich, was wir damals hinter den Mänteln sprachen?»
«Ja.»
«Ich bin niemals mehr darauf zu sprechen gekommen, denn das bloße Reden hat ja doch keinen Zweck. Aber ich habe darüber nachgedacht, – du kannst mir glauben – oft. Auch das, was Reiting dir eben gesagt hat, ist wahr. Ich habe dasselbe mit Basini getan wie er. Vielleicht noch einiges mehr. Deswegen, weil ich, wie ich schon damals sagte, des Glaubens war, daß die Sinnlichkeit vielleicht das richtige Tor sein könnte. Das war so ein Versuch. Ich wußte keinen anderen Weg zu dem, was ich suchte. Aber dieses Planlose hat keinen Sinn. Darüber habe ich nachgedacht, – nächtelang nachgedacht, – wie man etwas Systematisches an seine Stelle setzen könnte.
Jetzt glaube ich es gefunden zu haben, und wir werden den Versuch machen. Jetzt wirst du auch sehen, wie sehr du damals im Unrecht warst. Alles ist unsicher, was von der Welt behauptet wird, alles geht anders zu. Das lernten wir damals gewissermaßen nur von der Kehrseite kennen, indem wir Punkte aufsuchten, bei denen diese ganze natürliche Erklärung über die eigenen Füße stolpert, jetzt hoffe ich aber das Positive zeigen zu können, – das andere!»
Reiting verteilte die Teeschalen; dabei stieß er vergnügt Törleß an. «Gib gut acht. – Das ist sehr fesch, was er sich ausgetiftelt hat.»
Beineberg aber drehte mit einer raschen Bewegung die Lampe aus. In dem Dunkel warf nur die Spiritusflamme des Kochers unruhige, bläuliche Lichter auf die drei Köpfe.
«Ich löschte die Lampe aus, Törleß, weil es sich so von solchen Dingen besser spricht. Und du, Reiting, kannst meinethalben schlafen, wenn du zu dumm bist, um Tieferes zu begreifen.»
Reiting lachte belustigt.
«Du erinnerst dich also noch an unser Gespräch. Du selbst hattest damals jene kleine Sonderbarkeit in der Mathematik herausgefunden. Dieses Beispiel, daß unser Denken keinen gleichmäßig festen, sicheren Boden hat, sondern über Löcher hinweggeht. – Es schließt die Augen, es hört für einen Moment auf zu sein und wird doch sicher auf die andere Seite hinübergetragen. Wir müßten eigentlich längst verzweifelt sein, denn unser Wissen ist auf allen Gebieten von solchen Abgründen durchzogen, nichts wie Bruchstücke, die in einem unergründlichen Ozean treiben.
Wir verzweifeln aber nicht, wir fühlen uns dennoch so sicher wie auf festem Boden. Wenn wir dieses sichere, gewisse Gefühl nicht hätten, würden wir uns aus Verzweiflung über unseren armen Verstand töten. Dieses Gefühl begleitet uns beständig, es hält uns zusammen, es nimmt unseren Verstand in jedem zweiten Augenblick schützend in den Arm wie ein kleines Kind. So wie wir uns dessen einmal bewußt geworden sind, können wir das Dasein einer Seele nicht mehr leugnen. So wie wir unser geistiges Leben zergliedern und das Unzureichende des Verstandes erkennen, fühlen wir es förmlich. Fühlen es, – verstehst du, – denn wenn dieses Gefühl nicht wäre, würden wir zusammenklappen wie leere Säcke.
Wir haben nur verlernt, auf dieses Gefühl zu achten, aber es ist eines der ältesten. Vor tausenden von Jahren haben schon Völker, die tausende Meilen voneinander wohnten, darum gewußt. Wie man sich einmal damit befaßt, kann man diese Dinge gar nicht leugnen. Doch ich will dich nicht mit Worten überreden; ich werde dir nur das nötigste sagen, damit du nicht ganz unvorbereitet bist. Den Beweis werden die Tatsachen erbringen.
Nimm also an, die Seele existiere, dann ist es doch ganz selbstverständlich, daß wir kein heißeres Bestreben haben können, als den verloren gegangenen Kontakt mit ihr wieder herzustellen, mit ihr wieder vertraut zu werden, ihre Kräfte wieder besser ausnützen zu lernen, Teile der übersinnlichen Kräfte, die in ihrer Tiefe schlummern, für uns zu gewinnen.
Denn das alles ist möglich, es ist schon mehr als einmal gelungen, die Wunder, die Heiligen, die indischen Gottesschauer sind lauter Beglaubigungen für solche Geschehnisse.»
«Hör