Gesammelte Werke. Robert Musil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Musil
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788026800347
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Er lag ruhig, wie ein Jäger auf dem Anstände, mit dem Gefühle, daß die also verwartete Zeit ihren Lohn schon noch bringen werde. Sowie aber der Gedanke an das Buch auftauchte, nagte ein feinzahniger Zweifel an dieser Ruhe, eine Ahnung, daß er Unnützes tue, ein zögerndes Geständnis einer erlittenen Niederlage.

      Sobald dieses unklare Gefühl sich geltend machte, verlor seine Aufmerksamkeit das Behagliche, mit dem man der Entwicklung eines wissenschaftlichen Experimentes zusieht. Ein körperlicher Einfluß schien dann von Basini auszugehen, ein Reiz, wie wenn man in der Nähe eines Weibes schläft, von dem man jeden Augenblick die Decke wegziehen kann. Ein Kitzel im Gehirn, der von dem Bewußtsein ausgeht, daß man nur die Hand auszustrecken brauche. Das, was junge Paare häufig zu Ausschweifungen treibt, die weit über ihr sinnliches Bedürfnis hinausgehen.

      Je nach der Lebhaftigkeit, mit der ihm einfiel, daß sein Unterfangen ihm vielleicht lächerlich erscheinen müßte, wenn er das alles wüßte, was Kant, was sein Professor, was alle die wissen, welche mit ihren Studien fertig sind, je nach der Stärke dieser Erschütterung waren die sinnlichen Antriebe schwächer oder stärker, welche trotz der Stille des allgemeinen Schlafes seine Augen heiß und offen hielten. Ja zeitweilig loderten sie so mächtig in ihm empor, daß sie jeden anderen Gedanken erstickten. Wenn er sich in diesen Augenblicken halb willig, halb verzweifelt ihren Einflüsterungen hingab, so erging es ihm nur, wie es mit allen Menschen geht, die ja auch nie so sehr zu einer tollen, ausschweifenden, so sehr die Seele zerreißenden, mit wollüstiger Absicht zerreißenden, Sinnlichkeit neigen als dann, wenn sie einen Mißerfolg erlitten haben, der das Gleichgewicht ihres Selbstbewußtseins erschüttert. –

      Wenn er dann nach Mitternacht endlich in unruhigem Schlummer lag, schien ihm einige Male, daß jemand aus der Gegend um Reitings oder Beinebergs Bett aufstand, seinen Mantel nahm und zu Basini hintrat. Dann verließen sie den Saal … … Aber es konnte auch eine Einbildung gewesen sein. –

      Es kamen zwei Feiertage; da sie auf einen Montag und Dienstag fielen, ließ der Direktor den Zöglingen schon den Samstag frei, und es gab viertägige Ferien. Für Törleß war dies jedoch zu wenig, um die weite Reise nach Hause machen zu können; er hatte deswegen gehofft, daß wenigstens seine Eltern ihn besuchen würden, allein sein Vater wurde durch dringende Geschäfte im Ministerium festgehalten, und die Mutter fühlte sich unwohl, so daß sie sich nicht allein den Anstrengungen der Reise aussetzen konnte.

      Erst als Törleß den Brief erhielt, in dem ihm seine Eltern absagten und viele zärtliche Tröstungen hinzufügten, fühlte er, daß es ihm so eigentlich ganz recht sei. Er hätte es beinahe als eine Störung empfunden, – zumindest hätte es ihn arg verwirrt, – wenn er seinen Eltern im jetzigen Zeitpunkte hätte gegenübertreten müssen.

      Viele Zöglinge erhielten Einladungen auf naheliegende Besitzungen. Auch Dschjusch, dessen Eltern eine Tagreise im Wagen von der kleinen Stadt entfernt ein schönes Gut besaßen, nahm Urlaub, und Beineberg, Reiting, Hofmeier begleiteten ihn. Auch Basini war von Dschjusch eingeladen worden, allein Reiting hatte ihm befohlen abzulehnen. Törleß schützte vor, daß er nicht wisse, ob seine Eltern nicht doch noch kommen würden; er fühlte sich absolut nicht zu harmlos heiteren Festlichkeiten und Unterhaltungen gelaunt.

      Samstag mittag schon lag das große Haus schweigend und nahezu verlassen da.

      Wenn Törleß durch die Gänge schritt, so widerhallte es von einem Ende zum andern; kein Mensch bekümmerte sich um ihn, denn auch die meisten Lehrer waren zur Jagd oder sonst irgendwohin gefahren. Nur bei den Mahlzeiten, die jetzt in einem kleinen Zimmer neben dem verlassenen Speisesaale serviert wurden, sahen sich die wenigen zurückgebliebenen Zöglinge; nach Tisch zerstreuten sich ihre Schritte wieder in der weiten Flucht der Gänge und Zimmer, das Schweigen des Hauses verschlang sie gleichsam, und sie führten in der Zwischenzeit ein Leben, nicht mehr beachtet als das der Spinnen und Tausendfüßler in Keller und Boden.

      Von Törleß’ Klasse waren nur er und Basini zurückgeblieben, einige andere ausgenommen, welche in den Krankenzimmern lagen. Beim Abschied hatte Törleß noch einige heimliche Worte mit Reiting gewechselt, welche sich auf Basini bezogen. Reiting fürchtete nämlich, daß Basini die Gelegenheit benützen könnte, um bei einem der Lehrer Schutz zu suchen, und er legte Törleß ans Herz, ihn sorgsam zu überwachen.

      Es bedurfte dessen jedoch gar nicht, um Törleß’ Aufmerksamkeit auf Basini zu sammeln.

      Kaum hatte sich die Unruhe der vorfahrenden Wagen, der koffertragenden Diener, der mit Scherzen voneinander Abschied nehmenden Zöglinge aus dem Hause verloren, als das Bewußtsein seines Alleinseins mit Basini herrisch von Törleß Besitz ergriff.

      Das war nach dem ersten Mittagmahle. Basini saß vorne auf seinem Platze und schrieb an einem Briefe; Törleß hatte sich in die hinterste Ecke des Zimmers gesetzt und versuchte zu lesen.

      Es war zum ersten Male wieder das gewisse Buch, und Törleß hatte sich die Situation sorgsam so ausgedacht gehabt: Vorne saß Basini, hinten er, mit den Augen ihn festhaltend, sich in ihn hineinbohrend. Und so wollte er lesen. Nach jeder Seite sich tiefer in Basini hineinsenkend. So mußte es gehen; so mußte er die Wahrheiten finden, ohne das Leben, das lebendige, komplizierte, fragwürdige Leben, aus den Händen zu verlieren …

      Aber es ging nicht. Wie immer, wenn er sich etwas allzu sorgfältig vorher ausdachte. Es war zu wenig unvermittelt und die Stimmung erlahmte rasch zu einer zähen, breiigen Langeweile, die sich eklig an jeden der viel zu absichtlich immer wieder erneuten Versuche klebte.

      Törleß warf wütend das Buch zur Erde. Basini sah sich erschreckt um, fuhr aber gleich wieder hastig fort zu schreiben.

      So krochen die Stunden der Dämmerung zu. Törleß saß ganz stumpfsinnig. Das einzige, was sich aus einem dumpfen, surrenden, brummenden Allgemeingefühle heraus in sein Bewußtsein hob, war das Ticken seiner Taschenuhr. Wie ein kleines Schwänzchen wackelte es hinter dem trägen Leib der Stunden her. Im Zimmer wurde es verschwommen … Basini konnte doch längst nicht mehr schreiben … «Ah, wahrscheinlich traut er sich nicht Licht zu machen», dachte sich Törleß. Saß er aber überhaupt noch auf seinem Platze? Törleß hatte in die kahle, dämmerige Landschaft hinausgesehen und mußte sein Auge erst an das Dunkel des Zimmers gewöhnen. Doch. Dort, der unbewegliche Schatten, das wird er wohl sein. Ach, er seufzt ja sogar, – einmal, .. zweimal, .. oder schläft er am Ende?

      Ein Diener kam und zündete die Lampen an. Basini fuhr auf und rieb sich die Augen. Dann nahm er ein Buch aus der Lade und schien lernen zu wollen.

      Törleß brannte es auf den Lippen ihn anzusprechen, und um dem vorzubeugen, verließ er hastig das Zimmer.

      In der Nacht hätte Törleß beinahe Basini überfallen. Solch eine mörderische Sinnlichkeit war in ihm nach der Pein des gedankenlosen, stumpfsinnigen Tages erwacht. Zum Glück erlöste ihn noch rechtzeitig der Schlaf.

      Der nächste Tag verging. Er hatte nichts als die gleiche Unfruchtbarkeit der Stille gebracht. Das Schweigen – die Erwartung überreizten Törleß, – die beständige Aufmerksamkeit verzehrte alle geistigen Kräfte, so daß er zu jedem Gedanken unfähig blieb.

      Zerschlagen, enttäuscht, bis zu den ärgsten Zweifeln mit sich unzufrieden, legte er sich frühzeitig zu Bett.

      Er lag schon lange in einem ruhelosen, erhitzten Halbschlafe, als er Basini kommen hörte.

      Ohne sich zu regen, folgte er mit den Augen der dunklen Gestalt, die an seinem Bette vorbeischritt; er hörte das Geräusch, welches durch das Lösen der Kleidung verursacht wurde; dann das Knistern der über den Körper gezogenen Decke.

      Törleß hielt den Atem an, dennoch vermochte er nichts mehr zu hören. Und doch verließ ihn nicht das Gefühl, daß Basini nicht schlafe, sondern ebenso angestrengt wie er durch das Dunkel horche.

      So vergingen Viertelstunden, – Stunden. Hie und da nur durch das leise Geräusch der sich im Bette bewegenden Körper unterbrochen.

      Törleß befand sich in einem eigentümlichen Zustande, der ihn wach erhielt. Gestern waren es sinnliche Bilder der Einbildungskraft gewesen, in denen er gefiebert hatte. Erst ganz zum Schlüsse hatten sie eine Wendung zu Basini genommen, gleichsam sich unter der unerbittlichen Hand des Schlafes, der sie verlöschte, zum letzten Male aufgebäumt, und er hatte gerade daran nur