Gesammelte Werke. Robert Musil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Musil
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788026800347
Скачать книгу
zerbröckelnden indischen Tempel gehören, in die Gesellschaft unheimlicher Götzenbilder und zauberkundiger Schlangen in tiefen Verstecken; was sollten sie aber am Tage, im Konvikte, im modernen Europa? Und doch schienen diese Worte, nachdem sie sich ewig lange, wie ein Weg ohne Ende und Übersicht in tausend Windungen hingezogen hatten, plötzlich vor einem greifbaren Ziele gestanden zu sein …

      Und plötzlich bemerkte er, – und es war ihm, als geschähe dies zum ersten Male, – wie hoch eigentlich der Himmel sei.

      Es war wie ein Erschrecken. Gerade über ihm leuchtete ein kleines, blaues, unsagbar tiefes Loch zwischen den Wolken.

      Ihm war, als müßte man da mit einer langen, langen Leiter hineinsteigen können. Aber je weiter er hineindrang und sich mit den Augen hob, desto tiefer zog sich der blaue, leuchtende Grund zurück. Und es war doch, als müßte man ihn einmal erreichen und mit den Blicken ihn aufhalten können. Dieser Wunsch wurde quälend heftig.

      Es war, als ob die aufs äußerste gespannte Sehkraft Blicke wie Pfeile zwischen die Wolken hineinschleuderte und als ob sie, je weiter sie auch zielte, immer um ein weniges zu kurz träfe.

      Darüber dachte nun Törleß nach; er bemühte sich möglichst ruhig und vernünftig zu bleiben. «Freilich gibt es kein Ende», sagte er sich, «es geht immer weiter, fortwährend weiter, ins Unendliche.» Er hielt die Augen auf den Himmel gerichtet und sagte sich dies vor, als gälte es die Kraft einer Beschwörungsformel zu erproben. Aber erfolglos; die Worte sagten nichts, oder vielmehr sie sagten etwas ganz anderes, so als ob sie zwar von dem gleichen Gegenstande, aber von einer anderen, fremden, gleichgültigen Seite desselben redeten.

      «Das Unendliche!» Törleß kannte das Wort aus dem Mathematikunterrichte. Er hatte sich nie etwas Besonderes darunter vorgestellt. Es kehrte immer wieder; irgend jemand hatte es einst erfunden, und seither war es möglich, so sicher damit zu rechnen wie nur mit irgend etwas Festem. Es war, was es gerade in der Rechnung galt; darüber hinaus hatte Törleß nie etwas gesucht.

      Und nun durchzuckte es ihn wie mit einem Schlage, daß an diesem Worte etwas furchtbar Beunruhigendes hafte. Es kam ihm vor wie ein gezähmter Begriff, mit dem er täglich seine kleinen Kunststückchen gemacht hatte und der nun plötzlich entfesselt worden war. Etwas über den Verstand Gehendes, Wildes, Vernichtendes schien durch die Arbeit irgendwelcher Erfinder hineingeschläfert worden zu sein und war nun plötzlich aufgewacht und wieder furchtbar geworden. Da, in diesem Himmel, stand es nun lebendig über ihm und drohte und höhnte.

      Endlich schloß er die Augen, weil ihn dieser Anblick so sehr quälte.

      Als er bald darauf durch einen Windstoß, der durch das welke Gras raschelte, wieder geweckt wurde, spürte er seinen Körper kaum, und von den Füßen herauf strömte eine angenehme Kühle, die seine Glieder in einem Zustand süßer Trägheit festhielt. In sein früheres Erschrecken hatte sich nun etwas Mildes und Müdes gemischt. Noch immer fühlte er den Himmel riesig und schweigend auf sich herunterstarren, aber er erinnerte sich nun, wie oft er schon vordem einen solchen Eindruck empfangen hatte, und wie zwischen Wachen und Träumen ging er alle diese Erinnerungen durch und fühlte sich in ihre Beziehungen eingesponnen.

      Da war zunächst jene Kindheitserinnerung, in der die Bäume so ernst und schweigend standen wie verzauberte Menschen. Schon damals mußte er es empfunden haben, was später immer wieder kam. Selbst jene Gedanken bei Božena hatten etwas davon an sich gehabt, etwas Besonderes, etwas Ahnungsvolles, das mehr war als sie besagten. Und jener Augenblick der Stille im Garten vor den Fenstern der Konditorei, ehe sich die dunklen Schleier der Sinnlichkeit niedersenkten, war so gewesen. Und Beineberg und Reiting waren oft während des Bruchteils eines Gedankens zu etwas Fremdem, Unwirklichem geworden; und endlich Basini? Die Vorstellung dessen, was mit dem geschah, hatte Törleß völlig entzweigerissen; sie war bald vernünftig und alltäglich, bald von jenem bilderdurchzuckten Schweigen, das allen diesen Eindrücken gemeinsam war, das nach und nach in Törleß’ Wahrnehmung gesickert war und nun mit einem Male beanspruchte, als etwas Wirkliches, Lebendiges behandelt zu werden; genau so wie vorhin die Vorstellung der Unendlichkeit.

      Törleß fühlte nun, daß es ihn von allen Seiten umschloß. Wie ferne, dunkle Kräfte hatte es wohl schon seit je gedroht, aber er war instinktiv davor zurückgewichen und hatte es nur zeitweilig mit einem scheuen Blick gestreift. Nun aber hatte ein Zufall, ein Ereignis seine Aufmerksamkeit verschärft und darauf gerichtet, und wie auf ein Zeichen brach es nun von allen Seiten herein; eine ungeheure Verwirrung mit sich reißend, die jeder Augenblick aufs neue weiter breitete.

      Es kam wie eine Tollheit über Törleß, Dinge, Vorgänge und Menschen als etwas Doppelsinniges zu empfinden. Als etwas, das durch die Kraft irgendwelcher Erfinder an ein harmloses, erklärendes Wort gefesselt war, und als etwas ganz Fremdes, das jeden Augenblick sich davon loszureißen drohte.

      Gewiß: es gibt für alles eine einfache, natürliche Erklärung, und auch Törleß wußte sie, aber zu seinem furchtsamen Erstaunen schien sie nur eine ganz äußere Hülle fortzureißen, ohne das Innere bloßzulegen, das Törleß wie mit unnatürlich gewordenen Augen stets noch als zweites dahinter schimmern sah.

      So lag Törleß und war ganz eingesponnen von Erinnerungen, aus denen wie fremde Blüten seltsame Gedanken wuchsen. Jene Augenblicke, die keiner vergißt, Situationen, wo der Zusammenhang versagt, der sonst unser Leben sich lückenlos in unserem Verstande abspiegeln läßt, als liefen sie parallel und mit gleicher Geschwindigkeit nebeneinander her, – sie schlossen sich verwirrend eng aneinander.

      Die Erinnerung an das so furchtbar stille, farbentraurige Schweigen mancher Abende wechselte unvermittelt mit der heißen zitternden Unruhe eines Sommermittags, die einmal seine Seele glühend, wie mit den zuckenden Füßen eines huschenden Schwarms schillernder Eidechsen überlaufen hatte.

      Dann fiel ihm plötzlich ein Lächeln jenes kleinen Fürsten ein, – ein Blick, – eine Bewegung – damals, als sie innerlich miteinander fertig wurden, – durch die jener Mensch sich mit einem – sanften – Mal aus allen Beziehungen löste, die Törleß um ihn gesponnen hatte, und in eine neue, fremde Weite hineinschritt, die sich – gleichsam in das Leben einer unbeschreiblichen Sekunde konzentriert – unversehens aufgetan hatte. Dann kamen wieder Erinnerungen aus dem Walde, – zwischen den Feldern. Dann ein schweigsames Bild in einem dunkelnden Zimmer zu Hause, das ihn später an seinen verlorenen Freund plötzlich erinnert hatte. Worte eines Gedichtes fielen ihm ein …

      Und es gibt auch sonst Dinge, wo zwischen Erleben und Erfassen diese Unvergleichlichkeit herrscht. Immer aber ist es so, daß das, was wir in einem Augenblick ungeteilt und ohne Fragen erleben, unverständlich und verwirrt wird, wenn wir es mit den Ketten der Gedanken zu unserem bleibenden Besitze fesseln wollen. Und was groß und menschenfremd aussieht, solange unsere Worte von ferne danach langen, wird einfach und verliert das Beunruhigende, sobald es in den Tatkreis unseres Lebens eintritt.

      Und so hatten alle diese Erinnerungen auf einmal dasselbe Geheimnis gemeinsam. Als ob sie zusammengehörten, standen sie alle zum Greifen deutlich vor ihm.

      Sie waren zu ihrer Zeit von einem dunklen Gefühl begleitet gewesen, das er wenig beachtet hatte.

      Gerade um dieses bemühte er sich jetzt. Ihm fiel ein, daß er einstens, als er mit seinem Vater vor einer jener Landschaften stand, unvermittelt gerufen hatte: o es ist schön, – und verlegen wurde, als sich sein Vater freute. Denn er hätte ebenso gut sagen mögen: es ist schrecklich traurig. Es war ein Versagen der Worte, das ihn da quälte, ein halbes Bewußtsein, daß die Worte nur zufällige Ausflüchte für das Empfundene waren.

      Und heute erinnerte er sich des Bildes, erinnerte sich der Worte und deutlich jenes Gefühles zu lügen, ohne zu wissen, wieso. Sein Auge ging in der Erinnerung von neuem alles durch. Aber immer wieder kehrte es ohne Erlösung zurück. Ein Lächeln des Entzückens über den Reichtum der Einfälle, das er noch immer wie zerstreut festhielt, bekam langsam einen kaum merklichen schmerzhaften Zug …

      Er hatte das Bedürfnis, rastlos nach einer Brücke, einem Zusammenhange, einem Vergleich zu suchen – zwischen sich und dem, was wortlos vor seinem Geiste stand.

      Aber so oft er sich bei einem Gedanken beruhigt hatte, war wieder dieser unverständliche Einspruch da: Du lügst. Es war, als ob er eine unaufhörliche Division durchführen müßte,