Gesammelte Werke. Robert Musil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Musil
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788026800347
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vermochte nichts zu denken; er sah … Er sah hinter seinen geschlossenen Augen wie mit einem Schlage ein tolles Wirbeln von Vorgängen, … Menschen; Menschen in einer grellen Beleuchtung, mit hellen Lichtern und beweglichen, tief eingegrabenen Schatten; Gesichter, … ein Gesicht; ein Lächeln, … einen Augenaufschlag, … ein Zittern der Haut; er sah Menschen in einer Weise, wie er sie noch nie gesehen, noch nie gefühlt hatte: Aber er sah sie, ohne zu sehen, ohne Vorstellungen, ohne Bilder; so als ob nur seine Seele sie sähe; sie waren so deutlich, daß er von ihrer Eindringlichkeit tausendfach durchbohrt wurde, aber, als ob sie an einer Schwelle Halt machten, die sie nicht überschreiten konnten, wichen sie zurück, sobald er nach Worten suchte, um ihrer Herr zu werden.

      Er mußte weiter fragen. Seine Stimme vibrierte. «Und … hast du gesehen?»

      «Ja.»

      «Und … wie war Basini?»

      Aber Beineberg schwieg, und wieder hörte man nur das unruhige Knistern der Zigaretten. Erst lange nachher begann Beineberg wieder zu sprechen.

      «Ich habe mir die Sache hin und her überlegt, und du weißt, daß ich darin ganz besonders denke. Was zunächst Basini anlangt, meine ich, daß es um ihn in keinem Falle schade wäre. Sei es, daß wir ihn jetzt anzeigen oder schlagen, oder ihn selbst rein des Vergnügens halber zu Tode martern würden. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß so ein Mensch in dem wundervollen Mechanismus der Welt irgend etwas bedeuten soll. Er erscheint mir nur zufällig, außerhalb der Reihe geschaffen zu sein. Das heißt – irgend etwas muß ja auch der bedeuten, aber sicher nur etwas so Unbestimmtes wie irgendein Wurm oder ein Stein am Wege, von dem wir nicht wissen, ob wir an ihm vorübergehen oder ihn zertreten sollen. Und das ist so gut wie nichts. Denn, wenn die Weltseele will, daß einer ihrer Teile erhalten bleibe, so spricht sie sich deutlicher aus. Sie sagt dann nein und schafft einen Widerstand, sie läßt uns an dem Wurm vorübergehen und gibt dem Stein eine so große Härte, daß wir ihn nicht ohne Werkzeug zerschlagen können. Denn bevor wir solches holen, hat sie längst die Widerstände einer Menge kleiner, zäher Bedenken eingeschoben, und überwinden wir diese, so hatte die Sache eben von vorneherein andere Bedeutung.

      Bei einem Menschen legt sie diese Härte in seinen Charakter, in sein Bewußtsein als Mensch, in sein Verantwortlichkeitsgefühl, ein Teil der Weltseele zu sein. Verliert nun ein Mensch dieses Bewußtsein, so verliert er sich selbst. Hat aber ein Mensch sich selbst verloren und sich aufgegeben, so hat er das Besondere, das Eigentliche verloren, weswegen ihn die Natur als Mensch geschaffen hat. Und niemals kann man so sicher sein als in diesem Falle, daß man es mit etwas Unnotwendigem zu tun habe, mit einer leeren Form, mit etwas, das von der Weltseele schon längst verlassen wurde.»

      Törleß fühlte keinen Widerspruch. Er hörte auch gar nicht mit Aufmerksamkeit zu. Er hatte bisher noch nie Veranlassung zu solchen metaphysischen Gedankengängen gehabt, und hatte auch nie darüber nachgedacht, wieso ein Mensch von Beinebergs Verstande auf derartiges verfallen könne. Die ganze Frage war überhaupt noch nicht in den Horizont seines Lebens getreten.

      Demgemäß gab er sich auch gar keine Mühe, Beinebergs Ausführungen auf ihren Sinn zu prüfen; er hörte nur halb auf sie hin.

      Er verstand bloß nicht, wie man so breit und weit ausholen könne. In ihm zitterte alles, und die Umsicht, mit der Beineberg seine Gedanken weiß Gott wo herholte, erschien ihm lächerlich, unangebracht, machte ihn ungeduldig. Aber Beineberg fuhr gelassen fort: «Mit Reiting jedoch steht die Sache ganz anders. Auch er hat sich durch das, was er getan hat, in meine Hand gegeben, aber sein Schicksal ist mir gewiß nicht so gleichgültig wie das Basinis. Du weißt, seine Mutter hat kein großes Vermögen; wenn er aus dem Institute ausgeschlossen wird, ist es daher für ihn mit allen Plänen zu Ende. Von hier aus kann er es zu etwas bringen, sonst aber dürfte sich wohl wenig Gelegenheit dazu finden. Und Reiting hat mich nie mögen, … verstehst du?… er hat mich gehaßt, … hat mir früher zu schaden getrachtet, wo er nur konnte, … ich glaube, er würde sich heute noch freuen, wenn er mich los werden könnte. Siehst du jetzt, was ich aus dem Besitz dieses Geheimnisses alles machen kann? …»

      Törleß erschrak. Aber so sonderbar, als ob das Schicksal Reitings ihn selbst beträfe. Er blickte erschrocken auf Beineberg. Dieser hatte die Augen bis auf einen kleinen Spalt geschlossen und erschien ihm wie eine unheimliche, große, ruhig in ihrem Netze lauernde Spinne. Seine letzten Worte klangen kalt und deutlich wie die Sätze eines Diktats in Törleß’ Ohren.

      Er hatte das Vorangegangene nicht verfolgt, hatte nur gewußt: Beineberg spricht jetzt wieder von seinen Ideen, die doch mit dem Gegebenen gar nichts zu tun haben, … und nun wußte er auf einmal nicht, wie es gekommen war.

      Das Gewebe, das doch irgendwo draußen im Abstrakten angeknüpft worden war, wie er sich erinnerte, mußte sich mit fabelhafter Geschwindigkeit plötzlich zusammengezogen haben. Denn mit einem Male war es nun konkret, wirklich, lebendig, und ein Kopf zappelte darin … mit zugeschnürtem Halse.

      Er liebte Reiting durchaus nicht, aber er erinnerte sich jetzt seiner liebenswürdigen, frechen, unbekümmerten Art, mit der er alle Intrigen anfaßte, und Beineberg erschien ihm dagegen schändlich, wie er ruhig und grinsend seine vielarmigen, grauen, abscheulichen Gedankengespinste um jenen zusammenzog.

      Unwillkürlich fuhr ihn Törleß an: «Du darfst es nicht gegen ihn ausnützen.» Es mochte wohl auch sein steter, heimlicher Widerwille gegen Beineberg mit im Spiele gewesen sein.

      Aber Beineberg sagte von selbst, nach kurzem Besinnen: «Wozu auch?! Um ihn wäre wirklich schade. Mir ist er von jetzt an ohnedies ungefährlich, und er ist doch zu viel wert, um ihn über eine solche Dummheit stolpern zu lassen.» Damit war dieser Teil der Angelegenheit erledigt. Aber Beineberg sprach weiter und wandte sich nun wieder Basinis Schicksal zu.

      «Meinst du noch immer, daß wir Basini anzeigen sollen?» Aber Törleß gab keine Antwort. Er wollte Beineberg sprechen hören, dessen Worte klangen ihm wie das Hallen von Schritten auf hohlem, untergrabenem Erdreich, und er wollte diesen Zustand auskosten.

      Beineberg verfolgte seine Gedanken weiter. «Ich denke, wir behalten ihn vorderhand für uns und strafen ihn selbst. Denn bestraft muß er werden – allein schon wegen seiner Anmaßung. Die vom Institute würden ihn höchstens entlassen und seinem Onkel einen langen Brief dazu schreiben; – du weißt ja beiläufig, wie geschäftsmäßig das geht. Eure Exzellenz, Ihr Neffe hat sich vergessen … irregeleitet … geben ihn Ihnen zurück … hoffen, daß es Ihnen gelingen wird … Weg der Besserung … einstweilen jedoch unter den anderen unmöglich … usw. Hat denn so ein Fall ein Interesse oder einen Wert für sie?»

      «Und was für einen Wert soll er für uns haben?»

      «Was für einen Wert? Für dich vielleicht keinen, denn du wirst einmal Hofrat werden oder Gedichte machen; – du brauchst das schließlich nicht, vielleicht hast du sogar Angst davor. Aber ich denke mir mein Leben anders!»

      Törleß horchte diesmal auf.

      «Für mich hat Basini einen Wert, – einen sehr großen sogar. Denn sieh, – du ließest ihn einfach laufen und würdest dich ganz damit beruhigen, daß er ein schlechter Mensch war.» Törleß unterdrückte ein Lächeln. «Damit bist du fertig, weil du kein Talent oder kein Interesse hast, dich selbst an einem solchen Fall zu schulen. Ich aber habe dieses Interesse. Wenn man meinen Weg vor sich hat, muß man die Menschen ganz anders auffassen. Deswegen will ich mir Basini erhalten, um an ihm zu lernen.»

      «Wie willst du ihn aber bestrafen?»

      Beineberg hielt einen Augenblick mit der Antwort aus, als überlegte er noch die zu erwartende Wirkung. Dann sagte er vorsichtig und zögernd: «Du irrst, wenn du glaubst, daß mir so sehr um das Strafen zu tun ist. Freilich wird man es ja am Ende auch eine Strafe für ihn nennen können, … aber, um nicht lange Worte zu machen, ich habe etwas anderes im Sinn, ich will ihn … nun sagen wir einmal …: quälen …»

      Törleß hütete sich ein Wort zu sagen. Er sah noch durchaus nicht klar, aber er fühlte, daß dies alles so kam, wie es für ihn – innerlich – kommen mußte. Beineberg, der nicht entnehmen konnte, wie seine Worte gewirkt hatten, fuhr fort: «… Du brauchst nicht zu erschrecken, es ist nicht so arg. Denn zunächst auf Basini ist doch, wie ich dir ausführte, keine