»Matthias, bist du aus dem Bett gefallen?«, fragte er, während er die Treppe hinunterging.
»Schön wär’s! Leider war ich gar nicht erst drin.« Die Stimme des Kollegen klang müde. »Heute Nacht war die Hölle los.«
»Kein Wunder. Es ist Vollmond.« Daniel stand im düsteren Wohnzimmer am Fenster und blickte hinaus in den Garten, der vom ersten Tageslicht beschienen wurde. Ein blasser Mond starrte gespenstisch hinab auf die Erde.
»An so was glaub ich nicht.«
»Bestimmt rufst du mich nicht an, um mit mir über astronomische Phänomene und ihre Auswirkungen auf die menschliche Psyche zu diskutieren«, mutmaßte Daniel und wandte sich vom Fenster ab.
»Stimmt auffallend.« Matthias lachte kurz auf. »Ich soll dir schöne Grüße von einem deiner Patienten sagen. Arno Müller ist Zeitungsausträger und heute früh mit dem Fahrrad gegen eine Laterne gefahren. Er besteht darauf, dass du seine gebrochene Nase einrichtest. Von mir will er sich partout nicht anfassen lassen. Ich hab alles versucht.«
Erleichtert atmete Dr. Norden auf. Er hatte mit Schlimmerem gerechnet.
»Ich wusste ja gar nicht, dass ich so einen Fan habe«, erwiderte er. »Sag ihm, dass ich in einer Viertelstunde da bin.«
»Bei der Gelegenheit kannst du bei Tatjana in der Backstube vorbeifahren und ein paar frische Brezen mitbringen. Nach der Nacht hab ich mir eine Belohnung verdient«, erklärte Matthias noch, ehe er sich verabschiedete und Daniel sich daran machte, sein Versprechen einzulösen.
Zwanzig Minuten später tauchte er in der Notaufnahme auf. Als er den Kollegen Weigand fand, schwenkte er die Tüte aus der Backstube wie eine Trophäe über dem Kopf hin und her. Ein Leuchten erhellte Matthias‘ übernächtigtes Gesicht.
»Der Retter in der Not!«, begrüßte er Daniel und winkte ihn mit sich. Gemeinsam wanderten sie durch die Notaufnahme, in der es um diese Uhrzeit ruhig war. Die meisten Dramen spielten sich bis kurz vor Morgengrauen ab. »Zeit für einen Kaffee?«
»Ich seh zuerst nach meinem Patienten.«
»Herr Müller ist eingeschlafen.« Matthias blieb neben einer Tür stehen und hob den Zeigefinger. Dr. Norden lauschte. Tatsächlich drang lautes Schnarchen auf den Flur.
»Klingt, als zersägt er einen ganzen Wald«, grinste Daniel. »Bestimmt ist seine Frau froh, wenn er mitten in der Nacht das Haus verlässt«, mutmaßte er amüsiert und folgte Dr. Weigand in den Aufenthaltsraum. Verführerischer Kaffeeduft zog durchs Zimmer.
Zielstrebig ging Matthias auf die Schränke zu und nahm zwei Tassen und Teller heraus. Im Kühlschrank fand sich ein Stück Butter und eine angebrochene Packung Milch.
»Nicht gerade ein First-Class-Frühstück, aber immerhin.« Sie setzten sich an den Tisch und ließen sich Butterbrezen und Kaffee schmecken, während sie über dies und das plauderten.
»Wenn Fee mich so sehen würde, wäre sie sicher sauer«, bemerkte Dr. Norden launig und biss in seine Breze. »Sie wollte mich nicht gehen lassen.«
Matthias verdrehte die Augen. Mit zunehmender Verzweiflung war der gutaussehende Single auf der Suche nach einer Frau.
»Musst du mir dauernd unter die Nase reiben, wie schön es sein kann zu zweit?«, fragte er halb im Scherz, halb ernst. Ehe Daniel etwas erwidern konnte, fuhr er fort. »Apropos Fee. Sie wird sich freuen zu hören, dass ihr Jugendfreund die Nacht gut überstanden hat.« Er beugte sich vor, um ein weiteres Stück Butter zu nehmen. »Herr Körber hatte wirklich Glück im Unglück. Wenn Fee ihn nicht zufällig auf dieser Trauerfeier aufgesammelt hätte, wäre er heute mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr am Leben.« Matthias biss von der Breze ab.
Diese Zeit brauchte Daniel, um die Neuigkeit zu verdauen und sich zu fragen, warum seine Frau ihm nichts von diesem Erlebnis erzählt hatte.
Sollte er mit Matthias darüber sprechen?
Er entschied sich dagegen, zumal es langsam Zeit wurde, sich um den glücklosen Zeitungsausfahrer zu kümmern, wenn er nicht zu spät zur Sprechstunde kommen wollte.
»Ja, manchmal hat das Schicksal ein Einsehen«, wich er auf einen Allgemeinplatz aus.
Er steckte das letzte Stück der Breze in den Mund, leerte den Kaffee und stand auf. »Dann wollen wir Herrn Müller mal aus seinen Sägewerksträumen wecken.«
»Stört dich nicht, wenn ich noch hierbleibe?«, fragte Matthias und griff nach der Tüte aus Tatjanas Bäckerei.
Insgeheim gratulierte sich Dr. Norden, dass ihm der Kollege nichts angemerkt hatte.
»Kein Problem. Vor dir hat er ja eh Angst.« Er lächelte Weigand zu und verließ den Aufenthaltsraum. Die Tür war noch nicht hinter ihm ins Schloss gefallen, als das Lächeln auf seinem Gesicht erstarb.
*
Mutterseelenallein saß Fee in der Küche am Tresen und trank ihren Morgenkaffee, als sie sah, wie Noah den Gartenweg hinauf lief. Schlagartig hatte sie ein schlechtes Gewissen, war er doch am vergangenen Abend völlig in Vergessenheit geraten.
»Guten Morgen, Noah. Tut mir leid, dass ich mich gestern nicht mehr gemeldet habe«, entschuldigte sie sich noch an der Tür. »Aber ich habe nichts von Anneka gehört. Willst du einen Kaffee mit mir trinken? Meine liebe Familie schläft noch, ich bin ganz allein.«
Noah folgte ihrer Einladung hereinzukommen, schlug den Kaffee aber aus.
»Ist sie denn hier?«, erkundigte er sich und schickte einen Blick Richtung Treppe.
Diese Frage überraschte Fee.
»Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung«, musste sie gestehen, machte aber auch keine Anstalten nachzusehen. Im Grunde kam ihr Noah gerade recht, um ihm auf den Zahn zu fühlen. »Sag mal«, begann sie und kehrte in die Küche zurück.
Noah warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick die Treppe hinauf, ehe er ihr folgte.
»Was denn?«
»Ihr beiden hattet doch gestern Jahrestag, nicht wahr?«
Sie setzte sich an den Tresen und sah ihn fragend an. Noah dagegen blieb stehen. In diesem Moment wünschte er sich nichts sehnlicher als ein Loch im Boden, in das er verschwinden konnte.
»Jaaaa, schooon«, erwiderte er gedehnt. »Sie wollte mich überraschen. Aber ich hab’s echt vergessen und schon was mit meinen Kumpels ausgemacht.« Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Nervös wippte er auf den Schuhsohlen vor und zurück. »Dafür wollte ich am Abend mit ihr weggehen. Aber dann ist Anneka nicht gekommen.«
»Ehrlich gesagt kann ich sie verstehen.« Fee war keine dieser Mütter, die ihre Kinder durch eine rosarote Brille betrachten. Sie fand beileibe nicht alles gut, was ihre Tochter tat. Doch diesmal war sie uneingeschränkt auf Annekas Seite. »Weißt du, sie hat tagelang darüber nachgedacht, womit sie dich überraschen könnte. Hat sich extra einen Tag freigenommen, sich ein Kleid von Tatjana geliehen. Und dann muss sie nicht nur feststellen, dass du nicht an euren Ehrentag gedacht hast, sondern bekommt auch noch einen Korb«, rechtfertigte sie ihre Meinung.
Betroffen senkte Noah den Kopf. All das hatte er nicht gewusst.
»Tut mir echt wahnsinnig leid. Aber jetzt kann ich’s leider nicht mehr ändern.« Nachdenklich starrte er auf den Boden. »Du findest, dass sich sie vernachlässige, oder?«
Felicitas stellte die Kaffeetasse zurück auf den Tresen und musterte ihn forschend.
»Ehrlich gesagt schon. Anneka ist eine junge Frau, die sich geliebt fühlen und mit ihrem Partner was erleben möchte.«
»Aber mein Job …« Angesichts von Fees Kopfschütteln hielt er inne. »Was?«
»Annekas Arbeit ist auch kein Zuckerschlecken. Den ganzen Tag mit kleinen Kindern … Das kann einem den letzten Nerv rauben.«
Abwehrend hob Noah die Hände. Wohl oder übel