Sicherlich nicht, denn sie hielt oftmals Mörder auf, die sonst mit großer Sicherheit weitere Opfer gefordert hätten.
Sie rettete auf lange Sicht gesehen Leben – so viele Leben, das konnte sie sich gar nicht vorstellen.
Und doch, damit sie überhaupt einen Job hatte, musste irgendjemand morden, und irgendjemand musste sterben…
Es beginnt immer mit dem Tod.
Oft blieben die Fälle ihr noch lange nach ihrem Abschluss im Gedächtnis und stifteten selbst noch dann in ihr ein Unbehagen, wenn die Mörder bezwungen und zur Rechenschaft gezogen worden waren.
Sie machte den Fernseher wieder aus, da die Seifenoper sie zu nerven begann. Dann lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und dachte an ihren letzten Fall, die Serienmörderin in Georgia.
Arme Morgan, dachte sie.
Morgan Farrell war mit einem reichen aber gewalttätigen Mann verheiratet gewesen. Als er im Schlaf brutal ermordet worden war, war Morgan sich sicher gewesen, diejenige gewesen zu sein, die ihn erstochen hatte, obwohl sie sich an die Tat gar nicht hatte erinnern können.
Sie war sich sicher, dass sie es verdrängt oder vergessen hatte, wegen ihres Alkohol- und Medikamentenproblems.
Und sie war stolz auf das gewesen, was sie glaubte, getan zu haben. Sie hatte Riley sogar angerufen, um ihr das zu sagen…
„Ich habe den Mistkerl umgebracht.“
Morgan war unschuldig, wie sich später herausstellte. Eine andere wahnsinnige Frau hatte Morgans Ehemann umgebracht – und weitere ebenso gewalttätige Ehemänner.
Die Frau, die selbst unter ihrem verstorbenen Ehemann gelitten hatte, war danach auf eine Rachemission gegangen, um andere Frauen von ihrer Pein zu befreien. Riley konnte sie gerade noch rechtzeitig davon abbringen, einen unschuldigen Mann umzubringen, dessen einziges Vergehen es gewesen war, seine verstörte, wahnsinnige Frau zu lieben.
Riley spielte in ihrer Erinnerung durch, was geschehen war nachdem sie die Frau zu Boden gerungen und ihr Handschellen anlegt hatte…
„Adrienne McKinney, Sie sind verhaftet.“
Doch nun fragte Riley sich…
Was, wenn alles anders ausgegangen wäre?
Was, wenn Riley nicht nur den unschuldigen Mann hätte retten können, sondern auch der Frau ihren Fehler erklären und sie dann einfach hätte wieder laufen lassen können?
Sie hätte weiter gemordet, dachte Riley.
Und die Männer, die sie ermordet hätte, hätten ihren Tod verdient gehabt.
Was für eine Gerechtigkeit hatte sie damals also wirklich geschaffen?
Riley verlor bei dem Gedanken den Mut, und sie musste wieder an die Worte ihres Vaters denken…
„Es ist ein wahnsinnig unnützes Leben, das du da führst.“
Auf der einen Seite versuchte sie verzweifelt, das Leben einer Mutter und Frau zu führen, zwei Töchter großzuziehen und einen Mann zu lieben, den sie hoffte, eines Tages zu heiraten. Manchmal schien dieses Leben tatsächlich zu gelingen, und sie wusste auch, dass sie niemals aufgeben würde, es weiter zu versuchen.
Doch sobald sie alleine war, schien dieses normale Leben irgendwie so unecht.
Auf der anderen Seite musste sie gegen unsagbare Hindernisse ankämpfen und Ungeheuer besiegen. Ihr Job war ihr unglaublich wichtig, obwohl er zu oft wie ein Tropfen auf dem heißen Stein war.
Riley fühlte sich jetzt absolut elendig. Obwohl es erst Vormittag war, hatte sie das dringende Bedürfnis, sich einen starken Drink zu machen. Sie konnte der Versuchung jedoch widerstehen, und dann klingelte ihr Handy. Als sie sah, wer der Anrufer war, seufzte sie erleichtert.
Das hier war echt.
Sie hatte Arbeit zu tun.
KAPITEL NEUN
Riley fuhr mit gemischten Gefühlen zum BAU. An Merediths Stimme am Telefon hatte sie erkennen können, dass er schlechte Laune hatte.
Er hatte ihr keine Einzelheiten genannt. Er hatte bloß gesagt, dass er ihr Team aufgrund der jüngsten Entwicklungen zu einer Sitzung einbestellte. Sie war erleichtert gewesen, das Haus verlassen zu können und sich nach Quantico aufzumachen. Nun fragte sie sich allerdings, worüber sich Meredith ärgerte.
Vor ungefähr eineinhalb Wochen hatte er sie angerufen und dazu animieren wollen, sich nach Rushville, Mississippi aufzumachen, um einen dortigen Mordfall genauer unter die Lupe zu nehmen. Riley hatte sich damals geweigert.
Doch damals war er nicht wütend auf sie gewesen. Er hatte sich sogar richtig bedauernd geäußert, da er sie während ihres Urlaubes gestört hatte.
„Es tut mir leid, dass ich sie gestört habe“, hatte er gesagt. „Genießen sie weiterhin ihren Urlaub.“
Irgendetwas musste seitdem vorgefallen sein.
Was auch immer es war, es bedeutete wahrscheinlich, dass jetzt richtig viel Arbeit auf sie wartete. Rileys Stimmung wurde immer besser, als sie vor dem großen weißen Gebäude, in dem die BAU – die Verhaltensanalyseeinheit – ansässig war, hielt. Es kam ihr beinahe so vor als würde sie nach Hause zurückkehren.
Als sie geparkt hatte, ging Riley um das Auto herum und holte ihre Reisetasche, die sie immer für alle Fälle gepackt bereithielt, aus dem Kofferraum. Sie wusste, dass es durchaus wahrscheinlich war, dass sie heute noch zu einem neuen Fall entsandt werden würde.
Als sie in den Konferenzraum kam, hatte die Sitzung gerade begonnen. Rileys zwei Partner, Bill Jeffreys und Jenn Roston saßen ihrem Vorgesetzten, Spezialagenten Brent Meredith, gegenüber.
Mit seiner beachtlichen Statur und seinen schwarzen, kantigen Gesichtszügen machte Merediths imposante Erscheinung wie immer etwas her.
Doch heute sah er noch furchterregender aus als sonst. Während Riley ihren Platz am Konferenztisch einnahm, blickte er sie finster an.
Dann fragte er spitz: „Wie war Ihr Urlaub, Agentin Paige?“
Sein scharfer Ton verletzte Riley. Statt seine Frage zu beantworten, erwiderte sie entschlossen Merediths Blick und sagte fest: „Ich bin bereit, zur Arbeit zurückzukehren.“
Meredith nickte in mürrischer Anerkennung.
Dann sagte er: „Da wir jetzt vollständig sind, lassen Sie uns beginnen.“
Meredith blickte zwischen den Kollegen hin und her und fuhr fort: „Ich musste immer wieder an den Mord in Rushville, Mississippi denken – der Fall, wegen dem die Polizistin von dort uns mehrmals angerufen hatte. Ich habe deshalb Agent Jeffreys gebeten, ein paar Nachforschungen anzustellen. Das hat er auch getan, und nun meint er, dass wir uns vielleicht doch mit dem Fall beschäftigen sollten. Würden Sie das bitte etwas genauer ausführen, Agent Jeffreys?“
„Natürlich“, antwortete Bill während er aufstand und zum Flachbildschirm auf der anderen Seite des Raumes schritt. Bill war seit Jahren Rileys Partner und guter Freund, und Riley war gerade besonders froh, ihn vor sich zu sehen. Sie waren ungefähr gleich alt. Er war ein starker, gutaussehender Mann. Ein paar erste graue Strähnen leuchteten in seinem dunklen Haar.
Bill drückte auf einen Pointer und einige Bilder erschienen auf dem Bildschirm. Eines war von einem schweigsam aussehenden Mann, der wohl in seinen Fünfzigern war. Das nächste Bild zeigte die Leiche desselben Mannes. Sie lag auf einem Dielenboden und eine einzige, brutal tiefe, rundliche Wunde prangte auf seiner Stirn.
Auf die Fotos zeigend begann Bill zu erklären…
„Gareth Ogden wurde vor elf Tagen in seinem eigenen Haus in Rushville ermordet. Der Mord fand ungefähr um zwanzig Uhr dreißig statt. Er wurde mit einem einzigen Hammerschlag gegen die Stirn ermordet.“
Meredith warf Riley und Jenn einen Blick zu und ergänzte: „Das hier sind die Bilder von dem Mord, wegen dem die Polizistin aus Rushville uns hier am BAU angerufen hatte. Sie hatte