Sie barg ihr Gesicht in ihre Hände und schwieg. Ich bemühte mich ihr Vertrauen zu gewinnen – es war vergebens; ich musste sie verlassen. Diese unglückliche Frau, George, muss maßlos elend sein und sie ist ein so herzgewinnendes Geschöpf! Es war mir unmöglich ihr mein Mitleid zu versagen, ob sie es verdient oder nicht. Ein tiefes Geheimnis umgibt sie, lieber Sohn. Sie spricht Englisch ohne jeden fremdartigen Akzent – und doch trägt sie einen fremden Namen.
»Sagte sie Dir ihren Namen?«
»Nein – und ich wollte sie nicht danach fragen. Die Wirtin hier ist aber keine sehr rückhaltende Person, sie erzählte mir, dass sie die Wäsche der Unglücklichen noch gesehen habe, während sie am Feuer getrocknet wurde. Der Name, den sie trug war: »Van Brandt.«
»Van Brandt?« wiederholte ich. »Das klingt, wie ein holländischer Name. Du sagst aber, dass sie wie eine Engländerin sprach, vielleicht ist sie in England geboren.«
»Oder vielleicht ist sie verheiratet,« fügte meine Mutter hinzu, »und van Brandt ist der Name ihres Mannes.«
Der Gedanke, dass sie verheiratet sein möchte, war mir unbehaglich. Ich wünschte meine Mutter hätte diese Vermutung nicht ausgesprochen. Ich weigerte mich sie zu teilen und beharrte in meinem Glauben, dass die Fremde unvermählt sei, dann konnte ich mir ja gestatten, ungehindert an sie zu denken; ich konnte dann ja hoffen die Spur der reizenden Fliehenden zu entdecken, die mir ein so hohes Interesse eingeflößt hatte und deren Selbstmordversuch mich fast das Leben gekostet hätte. Freilich war die Hoffnung sie wiederzufinden zweifelhaft genug, wenn sie wirklich bis Edinburgh gereist war, – was ziemlich sicher schien, da sie unentdeckt
bleiben wollte. Die große Stadt und mein schwacher Gesundheitszustand machten das Suchen dort sehr schwer und dennoch belebte mich die Hoffnung so, dass ich kein Gefühl der Niedergeschlagenheit empfand. Ich hatte die feste Überzeugung, oder ich sollte besser sagen, den sicheren Aberglauben, dass wir beide, die wir beinah mit einander gestorben wären, die wir vereint zum Leben zurückgerufen waren, auch bestimmt sein mussten in Zukunft noch gemeinsame Freuden oder Schmerzen zu durchleben. »Ich denke, ich werde sie wiedersehen,« war mein letzter Gedanke, ehe die Schwäche mich übermannte und ich in einen friedlichen Schlummer sank.
In derselben Nacht wurde ich von dem Gasthause nach meinem eigenen Zimmer gebracht und in dieser Nacht sah ich sie im Traum wieder.
Ihr Bild war mir ebenso lebhaft gegenwärtig, als das so ganz verschiedene der kleinen Mary, wie ich sie in früheren Tagen erblickt hatte. Die Traumgestalt der Frau war gekleidet wie ich sie auf der Brücke gesehen hatte. Sie trug denselben breitgeränderten Gartenhut von Stroh. Sie sah mich an, wie sie mich angesehen hatte, als ich mich ihr in dem matten Abendlicht genähert hatte, bald aber verklärte sich ihr Gesicht durch ein göttlich schönes Lächeln und sie flüsterte in mein Ohr: »Freund, kennst du mich?«
Ich kannte sie sicherlich und – doch hatte ich ein unbegreifliches Gefühl von Zweifel. Obgleich ich sie im Traum als die Fremde erkannte, die mich so lebhaft beschäftigte, war ich doch unzufrieden mit mir selbst, als hätte ich sie nicht recht erkannt. Mit diesem Gedanken erwachte
ich und schlief die Nacht über nicht mehr.
In drei Tagen war ich kräftig genug mit meiner Mutter auszufahren und zwar in dem bequemen, altmodischen, offenen Wagen, der Mr. Germaine gehört hatte.
Am vierten Tage beschlossen wir einen Ausflug nach einem kleinen Wasserfall in unserer Nachbarschaft zu machen. Meine Mutter hatte eine große Vorliebe für diesen Ort und hatte den Wunsch ausgesprochen, ein Andenken daran zu besitzen. Ich beschloss mein Skizzenbuch mitzunehmen, für den Fall, dass ich mich kräftig genug fühlen würde, um ihr eine Zeichnung von ihrer Lieblingslandschaft zu machen. Ich fand das Skizzenbuch, das ich suchte und das ich seit Jahren nicht benutzt hatte, in einem alten Schreibtisch, der seit meiner Abreise nach Indien nicht geöffnet worden war. Während des Suchens zog ich einen Schubkasten in dem Tisch auf und fand darin eine Reliquie aus alter Zeit – meiner armen, kleinen Mary erste Stickerei – die grüne Flagge!
Der Anblick des vergessenen Talismanes führte meine Erinnerung zu des Vogtes Hause zurück, ich gedachte der Dame Dermody und ihrer vertrauensvollen Prophezeiung für Mary und mich.
Ich lächelte, als ich mir die Behauptung der alten Frau zurückrief, dass es in Zukunft keiner menschlichen Macht gelingen würde, die verwandten Geister dieser Kinder zu trennen. Was war aus den prophezeiten Träumen geworden, durch die wir während unserer Trennungszeit miteinander verkehren sollten? Jahre waren vergangen und ich hatte weder schlafend noch wachend etwas von Mary gesehen. Jahre waren vergangen und das erste Traumbild, das mir von einem Weibe erschienen, war, vor wenigen Nächten, das Bild der Frau gewesen, die ich vom Ertrinken gerettet hatte! Ich dachte über diese Ereignisse und Wechsel in meinem Leben nach – aber ohne Zorn und Bitterkeit. Die neue Liebe, die sich in mein Herz geschlichen hatte, machte mich sanfter und milder. Ich sprach zu mir selbst: »Arme kleine Mary!« – und küsste die grüne Flagge in dankbarer Erinnerung an jene Tage, die nimmer wiederkehren konnten.
Wir fuhren nach dem Wasserfall.
Es war ein herrlicher Tag: die einsame Waldgegend war so strahlend und schön! Der Besitzer des Ortes hatte ein hölzernes Lusthaus, das eine Aussicht auf den niederstürzenden Strom bot, zur Bequemlichkeit der Besucher erbaut. Meine Mutter bat mich, zu versuchen, ob ich nicht
von dieser Stelle aus die Aussicht aufnehmen könnte. Ich bemühte mich ihr den Gefallen zu tun, aber das Resultat befriedigte mich nicht und ich gab das Zeichnen auf, ehe ich halb fertig war. Skizzenbuch und Bleistift auf dem Tische des Lusthauses zurücklassend, schlug ich meiner Mutter vor einen Gang über die kleine hölzerne Brücke zu machen, die den Strom dicht bei seinem Fall überspannt, um zu sehen, wie sich die Landschaft von dem neuen Gesichtspunkte aus ausnahm.
Die Ansicht des Wasserfalles, vom entgegengesetzten Ufer aus gesehen, bot für einen mittelmäßigen Zeichner, wie ich es war, noch größere Schwierigkeiten, als die eben verlassene. Wir kehrten also zum Lusthause zurück.
Ich näherte mich zuerst der geöffneten Tür, stand aber, durch eine unerwartete Entdeckung am Eintreten gehindert, plötzlich still. Das Haus war nicht mehr leer, wie wir es verlassen hatten. Eine Dame saß am Tisch, meinen Bleistift in der Hand, in meinem Skizzenbuche schreibend!
Nach einigem Zögern trat ich näher zur Tür und hielt dann wieder, in atemlosem Erstaunen, inne. Die Fremde in dem Lusthause war keine Andere, als die Frau, die sich von der Brücke aus den Tod geben wollte!
Darüber war kein Zweifel. Es war dasselbe Kleid; es war das unvergessliche Gesicht, das ich im Abendlicht gesehn, das mir noch vor wenigen Nächten im Traum erschienen war! Ja, es war dieselbe Frau – ich sah sie so deutlich, wie ich die Sonne auf den Wasserfall scheinen sah – es war dieselbe, mit meinem Bleistift in der Hand, in meinem Buche schreibend!
Meine Mutter stand dicht hinter mir: sie sah meine Erregung. »George, was ist Dir!« rief sie aus.
Ich wies durch die offene Tür des Lusthauses.
»Nun?« fragte meine Mutter, »was ist da zu sehen?«
»Siehst Du nicht jemand am Tisch sitzen und in meinem Skizzenbuche schreiben?«
Meine Mutter blickte mich erstaunt an. »Sollte er wieder krank werden?« sagte sie zu sich selbst.
Im selben Augenblick legte die Frau den Bleistift aus der Hand und erhob sich langsam.
Sie sah mich mit traurigen, bittenden Augen an, und erhob ihre Hand, indem sie mir winkte. Ich gehorchte. Mich unwillkürlich vorwärts bewegend, fühlte ich mich durch eine unwiderstehliche Macht näher und näher zu ihr gezogen, ich erstieg die kleine Treppe, die zu dem Lusthause führte. Wenige