Auf dem Tische vor ihnen stand ein geöffnetes Reiseschreibzeug welches das Mädchen in einer eingetretenen Pause widerstrebend betrachtete. Sie hatten von Familienangelegenheiten gesprochen und zwar in italienischer Sprache, um ihre häuslichen Geheimnisse den Ohren der Fremden fern zu halten. Die Alte war die erste, welche die Unterhaltung wieder aufnahm.
»Du solltest wirklich den Brief schreiben, liebe Carmina«, sagte sie. »Tante Gallilee wartet darauf, von Deiner Ankunft zu hören.«
Carmina nahm die Feder, legte sie aber mit einem Seufzer wieder fort. »Liebe Teresa, wir sind erst gestern Abend angekommen«, wandte sie ein; »laß uns doch einen Tag für uns haben.«
Teresa zeigte über diesen Vorschlag unverstelltes Staunen und Unruhe.
»Jesus-Maria! einen Tag in London – und Deine Tante soll die ganze Zeit auf Dich warten! Was sagt Dein seliger Vater im Testamente? Es ist Deine zweite Mutter, mein Herz; ihr Haus ist jetzt Deine Heimath. Und Du willst einen ganzen Tag in einem Hotel bleiben, anstatt nach Haus zu gehen! Das geht nicht! Schreibe, meine Carmina – schreibe. Sieh’, hier auf der Karte steht die Adresse: »Fairfield-Gardens«. Da muß es schön sein, und Deine Tante ist jedenfalls eine liebe Dame – mach’, mach’!«
Aber Carmina widerstrebte noch. »Ich habe meine Tante sogar noch nicht einmal gesehen«, sagte sie. »Es ist schrecklich, bei einer Fremden leben zu sollen. Denke doch, ich war nur ein Kind, als Du nach dem Tode meiner Mutter zu uns kamst; es sind kaum sechs Monate her, daß ich meinen Vater verloren habe; ich habe niemanden als Dich – und wenn ich nach meiner künftigen Heimath gehe, wirst Du mich verlassen. Ich will ja nur einen Tag länger mit Dir zusammen sein, ehe wir scheiden.«
Die arme alte Duenna zog sich in den Schatten einer Gardine zurück und begann zu weinen. Carmina wußte aber, wie sie sie trösten konnte; sie nahm im Schutze des Tischtuches ihre Hand und flüsterte: »Wir wollen uns die Sehenswürdigkeiten ansehen, und zum Diner sollst Du dann ein Glas Porto-Porto haben.«
Leicht wie ein Kind getröstet, sah Teresa aus dem Schatten hervor. »Sehenswürdigkeiten, rief sie, ihre Thränen trocknend »Porto-Porto-Wein!« und dabei schmatzte sie mit den Lippen. »Ach, Kind, Du hast nicht vergessen, was ich Dir von meinem Aufenthalte in London in meinen jungen Jahren erzählt habe. Man sollte es kaum glauben, daß Dein Vater ein Engländer war und Du noch nie in London gewesen bist. Ich ging, um mich zu trösten, manchmal, wenn meine englische Gnädige mit mir zufrieden war, zu Museen und Concerten und die liebe Dame gab mir oft ein Glas von dem feinen starken Purpurwein. Die heilige Jungfrau gebe, daß Tante Gallilee ebenso gut sei! Solch einen Kopf voll Haare wie meine Gnädige wird sie schwerlich haben; es war eine Freude, es zu machen. Glaubst Du, ich würde nicht mit Dir hier in England bleiben, wenn ich könnte? Was aber sollte dann in Italien aus meinem Alten mit seinem verwünschten Asthma werden? O, es waren aber langweilige Jahre für mich hier in London – die schwarzen endlosen Straßen, diese schrecklichen Sonntage, diese Hunderttausende von immer eiligen, immer geschäftigen Leuten mit mürrischen Gesichtern! Ich freute mich, wieder zurückzukommen und mich in Italien zu verheirathen. Und da bin ich nun nach Gott weiß wie vielen Jahren wieder in London. Doch was! wir wollen uns heute amüsieren; und wenn wir morgen zu Madame Gallilee kommen, machen wir eine kleine Lüge und sagen, wir wären erst heute Abend angekommen.«
Der Gedanke an diese kleine Lüge kitzelte die humoristische Ader der Duenna so, daß sie sich im Stuhle zurücklehnte und lachte. Auf Carmina’s Gesichte zeigte sich schwach das seltene Lächeln; die schreckliche erste Begegnung mit der Tante drückte sie noch und sie nahm in Verzweiflung eine Zeitung zur Hand. »O beste Teresa!« sagte sie, »laß uns aus diesem entsetzlichen Zimmer fort und irgendwo hin, wo wir an Italien erinnert werden.«
Teresa erhob in Bestürzung die häßlichen Hände: »An Italien erinnert werden – in London?«
»Kann man hier keine italienische Musik hören?« fragte Carmina.
Die hellen Augen der Duenna antworteten in ihrer Sprache und sie nahm die nächste Zeitung.
Die Londoner Concertsaison war gerade auf ihrer Höhe und ganze Reihen, von Morgenconcerten waren angekündigt alles aber war deutsche, und größtentheils moderne deutsche Musik, und Carmina, die mit Mozart und Rossini und anderen Leuten der Ansicht war, daß Musik ohne Melodie überhaupt keine Musik sei, legte die Zeitung wieder fort.
Da es also mit dem Concertbesuch nichts war, so dachten sie daran, sich Gemälde anzusehen, und Teresa suchte unter den auf einem großen Tisch in der Mitte des Zimmers liegenden Büchern und kehrte mit einem Katalog der Ausstellung der königlichen Akademie, den jemand dort hatte liegen lassen, und einem Almanach zurück.
Auf der ersten Seite entdeckte Carmina eine Liste von königlichen Akademikern, ungefähr vierzig an der Zahl. Waren das alles berühmte Maler? Nur drei davon hatten sich außerhalb Englands allgemein bekannt gemacht. Sie schlug die letzte Seite auf und sah, daß die Kunstwerke sich auf mehr als fünfzehnhundert bezifferten. »Wenn wir da wieder fortkommen, werden uns Kopf und Füße weh thun«, bemerkte Teresa, und Carmina legte den Katalog fort.
Teresa blätterte in dem Almanach und stieß auf die Ueberschrift »Museen«. Mit einem billigenden Druck des Daumennagels dieselbe markierend, las sie dann das Verzeichnis; in gebrochenem Englisch vor.
»British Museum?« Teresa erinnerte sich des Gebäudes in einer Hinsicht lebhaft. »Da würden wir uns noch viel mehr Kopf- und Fußweh holen«, sagte sie kopfschüttelnd und las eine Reihe ihr unbekannter Namen. »Die Heiligen schützen uns vor all dem Kopf- und Fußweh, wenn die alle so groß sind!« Plötzlich erregte sie durch lautes in-die-Hände-Klatschen das Staunen aller Anwesenden. »Sir John Soane’s Museum, Lincoln’s Inn-Fields – ah, dessen erinnere ich mich. Ein kleines gemüthliches Museum in einem Privathause, worin alle möglichen hübschen Sachen zu sehen sind. Liebes Kind, Verlaß Dich auf die alte Teresa – komm’ zu Soane!«
Zehn Minuten darauf waren sie angekleidet und verließen das Hotel. Der helle Sonnenschein und die angenehme Luft luden sie zum Gehen ein. Sie gingen über den Strand und in eine nordwärts führende Straße; nach dem Weg zu fragen ließ Teresa’s Stolz nicht zu.
Ihr Gespräch, welches anfangs bei Italien und der Erinnerung an Carmina’s italienische Mutter verweilte, wandte sich bald dem schrecklichen Gegenstande der neuen Heimath zu. Teresa’s Hoffnung für die Zukunft richtete sich auf die Cousinen und sie entwarf ein Gemälde von zwei reizenden kleinen Mädchen, die es gar nicht erwarten könnten, ihrer jungen Verwandten aus Italien ihre unschuldigen Herzen zu schenken. »Sind es nur ihrer zwei?« fragte sie. »Richtig, Du sagtest mir, daß auch noch ein Knabe da wäre.«
»Mein Cousin Ovid ist ein großer Doctor«, verbesserte Carmina mit einer Miene von Wichtigkeit. Papa sagte, daß unsere Familie Ursache haben würde, stolz auf ihn zu sein.«
»Wohnt er zu Hause?« fragte die einfache Teresa.
»O, bewahre! Er hat selbst ein großes Haus, wo Hunderte von Kranken zu ihm kommen, um Heilung zu suchen, und Hunderte von goldenen Guineen zahlen.«
Hunderte von goldenen Guineen nur durch Heilung von Kranken zu verdienen, war für Teresa etwas an’s Wunderbare Grenzendes und sie sah feierlich zum Himmel auf. »Solch einen Cousin zu haben! Ist er jung, schön, verheirathet?«
Statt diese Fragen zu beantworten, sah sich Carmina um und fragte: »Folgt uns dies arme Thier?«
Das »arme Thier, das ihnen unzweifelhaft folgte, war einer von den halbverhungerten, vagabundierenden Londoner Hunden, die sich manchmal infolge der Sympathie ihres Geschlechts dem Fußgänger für eine Zeitlang anschließen.
»O, das räudige Vieh«, rief Teresa mit jener Hartherzigkeit gegen Thiere, die einer der ernstesten Mängel des italienischen Charakters ist, und erhob dabei ihren Sonnenschirm. Der Hund fuhr zurück, wartete einen Augenblick und folgte ihnen wieder, als sie in der direct auf Coventgarden mündenden, belebten Straße weitergingen.
Carmina’s weiches Herz fühlte Mitleid mit dem verlorenen, hungrigen Geschöpfe. »Ich muß dem armen Hunde etwas zu fressen kaufen«, sagte sie und blieb, als ihr dieser Gedanke kam, plötzlich stehen.
Der