Die Verwirrungen des Zöglings Törless. Robert Musil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Musil
Издательство: Public Domain
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Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 0
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denke noch immer nach, was das sein mag?« In Wahrheit hatte er aber bereits an etwas Weiteres gedacht, was er nur nicht eingestehen wollte. Die hohe Anspannung, das Lauschen auf ein ernstes Geheimnis und die Verantwortung, mitten in noch unbeschriebene Beziehungen des Lebens zu blicken, hatte er nur für einen Augenblick aushalten können. Dann war wieder jenes Gefühl des Allein und Verlassenseins über ihn gekommen, das stets dieser zu hohen Anforderung folgte. Er fühlte: hierin liegt etwas, das jetzt noch zu schwer für mich ist, und seine Gedanken flüchteten zu etwas anderem, das auch darin lag, aber gewissermaßen nur im Hintergrunde und auf der Lauer: Die Einsamkeit.

      Aus dem verlassenen Garten tanzte hie und da ein Blatt an das erleuchtete Fenster und riß auf seinem Rücken einen hellen Streifen in das Dunkel hinein. Dieses schien auszuweichen, sich zurückzuziehen, um im nächsten Augenblicke wieder vorzurücken und unbeweglich wie eine Mauer vor den Fenstern zu stehen. Es war eine Welt für sich, dieses Dunkel. Wie ein Schwarm schwarzer Feinde war es über die Erde gekommen und hatte die Menschen erschlagen oder vertrieben oder was immer getan, das jede Spur von ihnen auslöschte.

      Und Törleß schien es, daß er sich darüber freue. Er mochte in diesem Augenblick die Menschen nicht, die Großen und Erwachsenen. Er mochte sie nie, wenn es dunkel war. Er war gewöhnt sich dann die Menschen wegzudenken. Die Welt erschien ihm danach wie ein leeres, finsteres Haus und in seiner Brust war ein Schauer, als sollte er nun von Zimmer zu Zimmer suchen – dunkle Zimmer, von denen man nicht wußte, was ihre Ecken bargen – tastend über die Schwellen schreiten, die keines Menschen Fuß außer dem seinen mehr betreten sollte, bis – in einem Zimmer sich die Türen plötzlich vor und hinter ihm schlössen und er der Herrin selbst der schwarzen Scharen gegenüberstünde. Und in diesem Augenblicke würden auch die Schlösser aller anderen Türen zufallen, durch die er gekommen, und nur weit vor den Mauern würden die Schatten der Dunkelheit wie schwarze Eunuchen auf Wache stehen und die Nähe der Menschen fernhalten.

      Das war seine Art der Einsamkeit, seit man ihn damals im Stiche gelassen hatte, – im Walde, wo er so weinte. Sie hatte für ihn den Reiz eines Weibes und einer Unmenschlichkeit. Er fühlte sie als eine Frau, aber ihr Atmen war nur ein Würgen in seiner Brust, ihr Gesicht ein wirbelndes Vergessen aller menschlichen Gesichter und die Bewegungen ihrer Hände Schauer, die ihm über den Leib jagten . . .

      Er fürchtete diese Phantasie, denn er war sich ihrer ausschweifenden Heimlichkeit bewußt, und der Gedanke, daß solche Vorstellungen immer mehr Herrschaft über ihn gewinnen könnten, beunruhigte ihn. Aber gerade dann, wenn er sich am ernstesten und reinsten glaubte, überkamen sie ihn. Man könnte sagen, als eine Reaktion auf diese Augenblicke, wo er empfindsame Erkenntnisse ahnte, die sich zwar in ihm schon vorbereiteten, aber seinem Alter noch nicht entsprachen. Denn in der Entwicklung einer jeden feinen moralischen Kraft gibt es einen solchen frühen Punkt, wo sie die Seele schwächt, deren kühnste Erfahrung sie einst vielleicht sein wird, – so als ob sich ihre Wurzeln erst suchend senken und den Boden zerwühlen müßten, den sie nachher zu stützen bestimmt sind, – weswegen Jünglinge mit großer Zukunft meist eine an Demütigungen reiche Vergangenheit besitzen.

      Törleßʼ Vorliebe für gewisse Stimmungen war die erste Andeutung einer seelischen Entwicklung, die sich später als ein Talent des Staunens äußerte. Späterhin wurde er nämlich von einer eigentümlichen Fähigkeit geradezu beherrscht. Er war dann gezwungen, Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst häufig so zu empfinden, daß er dabei das Gefühl sowohl einer unauflöslichen Unverständlichkeit als einer unerklärlichen, nie völlig zu rechtfertigenden Verwandtschaft hatte. Sie schienen ihm zum Greifen verständlich zu sein und sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen. Zwischen den Ereignissen und seinem Ich, ja zwischen seinen eigenen Gefühlen und irgendeinem innersten Ich, das nach ihrem Verständnis begehrte, blieb immer eine Scheidelinie, die wie ein Horizont vor seinem Verlangen zurückwich, je näher er ihr kam. Ja, je genauer er seine Empfindungen mit den Gedanken umfaßte, je bekannter sie ihm wurden, desto fremder und unverständlicher schienen sie ihm gleichzeitig zu werden, so daß es nicht einmal mehr schien, als ob sie vor ihm zurückwichen, sondern als ob er selbst sich von ihnen entfernen würde, und doch die Einbildung, sich ihnen zu nähern, nicht abschütteln könnte.

      Dieser merkwürdige, schwer zugängliche Widerspruch füllte später eine weite Strecke seiner geistigen Entwicklung, er schien seine Seele zerreißen zu wollen und bedrohte sie lange als ihr oberstes Problem.

      Vorläufig kündigte sich die Schwere dieser Kämpfe aber nur in einer häufigen plötzlichen Ermüdung an und schreckte Törleß gleichsam schon von ferne, sobald ihm aus irgendeiner fragwürdig sonderbaren Stimmung – wie vorhin – eine Ahnung davon wurde. Er kam sich dann so kraftlos vor wie ein Gefangener und Aufgegebener, gleichermaßen von sich wie von den anderen Abgeschlossener; er hätte schreien mögen vor Leere und Verzweiflung und statt dessen wandte er sich gleichsam von diesem ernsten und erwartungsvollen, gepeinigten und ermüdeten Menschen in sich ab und lauschte – noch erschrocken von diesem jähen Verzichten und schon entzückt von ihrem warmen, sündigen Atem – auf die flüsternden Stimmen, welche die Einsamkeit für ihn hatte – – – – – – –

      Törleß machte plötzlich den Vorschlag zu zahlen. In Beinebergs Augen blitzte ein Verstehen auf; er kannte die Stimmung. Törleß war dieses Einverständnis zuwider; seine Abneigung gegen Beineberg wurde wieder lebendig und er fühlte sich durch die Gemeinschaft mit ihm geschändet.

      Aber das gehörte fast schon mit dazu. Das Schändliche ist eine Einsamkeit mehr und eine neue finstere Mauer.

      Und ohne miteinander zu sprechen, schlugen sie einen bestimmten Weg ein.

      Es mußte in den letzten Minuten ein leichter Regen gefallen sein, – die Luft war feucht und schwer, um die Laternen zitterte ein bunter Nebel und die Bürgersteige glänzten stellenweise auf.

      Törleß nahm den Degen, der aufs Pflaster schlug, eng an den Leib, allein selbst das Geräusch der aufklappernden Absätze durchrieselte ihn eigentümlich.

      Nach einer Weile hatten sie weichen Boden unter den Füßen, sie entfernten sich von der inneren Stadt und schritten durch breite Dorfstraßen dem Flusse zu.

      Dieser wälzte sich schwarz und träge, mit tiefen, glucksenden Lauten unter der hölzernen Brücke. Eine einzige Laterne, mit verstaubten und zerschlagenen Scheiben, stand da. Der Schein des unruhig vor den Windstößen sich duckenden Lichtes fiel dann und wann auf eine treibende Welle und zerfloß auf ihrem Rücken. Die runden Streuhölzer gaben unter jedem Schritte nach . . . rollten vor und wieder zurück . . .

      Beineberg stand still. Das jenseitige Ufer war mit dichten Bäumen bestanden, welche, da die Straße rechtwinkelig abbog und längs des Wassers weiter führte, wie eine schwarze, undurchdringliche Mauer drohten. Erst nach vorsichtigem Suchen fand sich ein schmaler, versteckter Weg, der geradeaus hineinführte. Von dem dichten, üppig wuchernden Unterholze, an das die Kleider streiften, ging jedesmal ein Schauer von Tropfen nieder. Nach einer Weile mußten sie wieder stehen bleiben und ein Streichholz anreiben. Es war ganz still, sogar das Gurgeln des Flusses war nicht mehr zu hören. Plötzlich kam von ferne ein unbestimmter, gebrochener Ton zu ihnen. Er hörte sich wie ein Schrei oder eine Warnung an. Oder auch wie der bloße Zuruf eines unverständlichen Geschöpfes, das irgendwo gleich ihnen durch die Büsche brach. Sie schritten auf den Ton zu, blieben stehen, schritten wieder weiter. Im ganzen mochte es wohl eine Viertelstunde gedauert haben, als sie aufatmend laute Stimmen und die Klänge einer Ziehharmonika unterschieden.

      Zwischen den Bäumen wurde es nun lichter, und nach wenigen Schritten standen sie am Rande einer Blöße, in deren Mitte ein quadratisches, zwei Stock hohes Gebäude massig aufgebaut war.

      Es war das alte Badhaus. Seinerzeit von den Bürgern des Städtchens und den Bauern der Umgegend als Heilstätte benützt, stand es jetzt schon seit Jahren fast leer. Nur in seinem Erdgeschosse bot es einem verrufenen Wirtshause Unterkunft.

      Die beiden standen einen Augenblick still und horchten hinüber.

      Eben setzte Törleß den Fuß vor, um aus dem Gebüsch herauszutreten, als drüben schwere Stiefel auf der Diele des Flures knarrten und ein Betrunkener mit unsicheren Schritten ins Freie trat. Hinter ihm, in dem Schatten des Flurs, stand ein Weib und man hörte es mit hastender,