Fast fünf Minuten lang ließ sich aus der benachbarten Kammer ein Geräusch von Tritten und Geflüster hören. Paul nahm einstweilen ein abgenutztes Buch von der Kommode; es war ein einzelner Band von Massalskis Roman »Die Strelitzen«. Er blätterte darin, da ging die Tür auf und Fenitschka, Mitia auf dem Arm, trat ein. Das Kind trug ein rotes, am Kragen galoniertes Hemdchen; seine Mutter hatte ihn gewaschen und gekämmt; er atmete laut, strampelte mit Händen und Füßen, wie gesunde Kinder zu tun pflegen; so klein er war, so wirkte doch die Eleganz seines Anzuges auf ihn, sein vollbackiges Gesichtchen drückte seine Befriedigung aus. Fenitschka hatte ihren eigenen Haarputz nicht vergessen und ein neues Krägelchen angelegt; sie hätte sich übrigens die Mühe sparen können.
Gibt es denn in der Tat etwas Reizenderes in der Welt, als eine junge, schöne Mutter mit ihrem Kind auf dem Arm?
»Welch ein Bursche!« sagte Paul freundlich und streichelte Mitias doppeltes Kinn mit der äußersten Nagelspitze seines Zeigefingers; das Kind betrachtete den Zeisig und fing an zu lachen.
»Das ist dein Onkel,« sagte Fenitschka, neigte den Kopf zum Knaben und schüttelte ihn leicht, während Duniascha eilends ein wohlriechendes Räucherkerzchen auf eine Kupfermünze unter das Fenster stellte.
»Wie alt ist er?« fragte Paul.
»Sechs Monate; seinen siebenten tritt er am elften dieses an.«
»Ist es nicht sein achter, Fedosia Nikolajewna?« wagte Duniascha einzuwenden.
»Nein, sein siebenter, ganz gewiß.«
Das Kind sah den Koffer an, lachte und packte plötzlich mit der ganzen Hand Nase und Lippen seiner Mutter.
»Kleiner Schelm!« sagte Fenitschka und ließ ihn gewähren.
»Er ähnelt meinem Bruder,« sagte Paul.
»Wem als ihm sollte er denn sonst ähnlich sehen?« dachte Fenitschka.
»Ja,« fuhr Paul fort, wie wenn er mit sich selbst gesprochen hätte, »die Ähnlichkeit ist zweifellos.«
Aufmerksam, fast traurig, fing er an, Fenitschka zu betrachten.
»Das ist dein Onkel,« wiederholte sie, diesmal mit kaum hörbarer Stimme.
»Ei, sieh da, Paul, dich suche ich,« rief plötzlich Kirsanoff.
Paul wandte sich rasch um; sein Gesicht zog sich in Falten; allein in dem Antlitz seines Bruders sprach sich so viel Glück und Dankbarkeit aus, daß es ihm unmöglich war, nicht mit einem Lächeln darauf zu antworten.
»Dein Kind ist prächtig,« sagte er und sah auf seine Uhr »Ich war hereingekommen, um eine Bestellung auf Tee zu machen …«
Paul nahm wieder sein gewöhnliches, gleichgültiges Wesen an und verließ unverzüglich das Zimmer.
»Ist er von selbst gekommen?« fragte Kirsanoff Fenitschka.
»Ja, er hat geklopft und kam dann herein.«
»Und Arkascha? Ist er seitdem nicht mehr bei dir gewesen?«
»Nein. Wäre es nicht vielleicht besser, ich bezöge mein altes Logis wieder, Nikolaus Petrowitsch?«
»Warum das?«
»Ich glaube, für einige Zeit wäre es gut.«
»Aber … nein,« gab Kirsanoff stotternd zur Antwort. »Jedenfalls ist es jetzt zu spät … Guten Morgen, Dicker,« fuhr er mit plötzlicher Lebhaftigkeit fort und küßte das Kind auf die Wange, dann neigte er sich tiefer und drückte seine Lippen auf die Hand, mit der Fenitschka Mitia hielt, und die sich milchweiß von dem roten Hemdchen des Kindes abhob.
»Was machen Sie, Nikolaus Petrowitsch?« flüsterte die junge Frau und schlug die Augen nieder, hob sie jedoch langsam wieder … Der Ausdruck ihrer Augen war bezaubernd, wenn sie so von unten herauf mit naivem und zärtlichem Lächeln jemand ansah.
Kirsanoff hatte die Bekanntschaft Fenitschkas folgendermaßen gemacht: Drei Jahre zuvor war er genötigt, eine Nacht im Wirtshaus eines kleinen Landstädtchens, ziemlich entfernt von seinem Gut, zuzubringen. Die Reinlichkeit des Zimmers und die blendende Weiße des Leinenzeugs überraschten ihn aufs angenehmste. »Ist die Wirtin vielleicht eine Deutsche?« fragte er sich, allein er täuschte sich. Sie war eine Russin im Alter von etwa 50 Jahren, sorgfältig gekleidet, mit intelligentem, sanftem Gesicht und ernstem Wesen. Er unterhielt sich mit ihr bei seinem Tee, und sie gefiel ihm sehr. Damals hatte er sich eben in seinem neuen Hause eingerichtet, und da er keine Leibeigenen mehr in seinem Dienste haben wollte, so sah er sich nach freien Dienern um. Die Wirtin ihrerseits klagte über die Seltenheit der Reisenden, über die schlechten Zeiten; er schlug ihr vor, die Wirtschaftsführung in seinem Hause zu übernehmen; sie willigte ein. Ihr Mann war schon lange tot, nur eine Tochter war geblieben, Fenitschka. Zwei oder drei Wochen nach der Zurückkunft Kirsanoffs kam Arina Sawichna (so hieß die neue Haushälterin) mit ihrer Tochter in Marino an und richtete sich im Seitenbau des Hauses ein. Das Glück war Kirsanoff günstig gewesen. Arina führte die Haushaltung vortrefflich. Niemand bekümmerte sich damals um Fenitschka, die schon volle 17 Jahre zählte; sie lebte ruhig wie ein Mäuschen im Loch, nur am Sonntag konnte Kirsanoff in einer Ecke der Dorfkirche das feine Profil eines zarten Mädchengesichts wahrnehmen. So verging mehr als ein Jahr.
Da trat eines Morgens Arina in Kirsanoffs Kabinett, und nachdem sie ihn, ihrer Gewohnheit gemäß, mit tiefer Verbeugung begrüßt hatte, fragte sie ihn, ob er kein Mittel wisse, um ihrer Tochter zu helfen, der ein Funken aus dem Ofen ins Auge gesprungen sei. Kirsanoff machte, wie alle Gutsbesitzer auf dem Lande, den Hausdoktor und hatte sich sogar eine homöopathische Apotheke angeschafft. Er ließ Fenitschka sogleich zu sich holen. Als diese hörte, daß der Herr sie zu sich befohlen habe, war sie sehr erschrocken, doch folgte sie ihrer Mutter. Kirsanoff führte sie an ein Fenster und faßte ihren Kopf mit beiden Händen. Nachdem er ihr rotes, entzündetes Auge genau untersucht hatte, verordnete er Umschläge mit einem Wasser, das er selbst bereitete. Dann riß er ein Stück von seinem Taschentuche ab und zeigte, wie es gemacht werden müsse. Als er damit fertig war, wollte sich Fenitschka zurückziehen, Arina aber rief: »Küß doch dem Herrn die Hand, du Dummköpfchen.« Kirsanoff ließ dies nicht zu, sondern küßte sie, selber ganz verwirrt, auf die Stirne, während sie sich zu ihm überbog. Fenitschkas Auge war bald geheilt, allein der Eindruck, den sie auf Kirsanoff gemacht hatte, erlosch nicht so bald. Er glaubte noch immer diese feinen weichen Haare zwischen den Fingern zu halten, glaubte immer das weiße, reine, schüchtern erhobene Antlitz und die halbgeöffneten Lippen zu sehen, zwischen welchen die Zähne wie kleine Perlen in der Sonne funkelten. Von da an betrachtete er sie Sonntags in der Kirche viel aufmerksamer und suchte Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Anfänglich beantwortete sie dies freundliche Entgegenkommen mit spröder Scheu, und als sie ihm einmal gegen Abend auf einem engen Fußweg, der durch ein Roggenfeld lief, begegnete, warf sie sich, um ihm zu entgehen, mitten in das wogende, mit Zyanen und Wermut untermischte Kornfeld. Er gewahrte ihren Kopf durch das Goldnetz der Ähren, hinter welchem sie ihn wie ein wildes Tierchen belauschte, und rief ihr freundlich zu:
»Guten Abend, Fenitschka, ich beiße nicht.«
»Guten Abend,« murmelte sie, ohne ihren Zufluchtsort zu verlassen.
Allmählich aber gewöhnte sie sich an ihn. Da starb plötzlich ihre Mutter an der Cholera. Was sollte nun aus ihr werden? Sie hatte schon den Ordnungssinn und den Verstand, der ihre Mutter auszeichnete; aber sie war so allein, und Kirsanoff schien so gütig, so rücksichtsvoll … Wir brauchen das Weitere nicht zu erzählen.
»Also ist mein Bruder nur so mir nichts dir nichts zu dir gekommen? Er hat angeklopft und ist hereingetreten?«
»Ja.«
»Nun, das gefällt mir. Laß mich Mitia ein wenig schaukeln.«
Und Kirsanoff schwang seinen Sohn bis an die Decke empor, zur großen Freude des Kleinen und zur großen Unruhe seiner Mutter, die, sooft sie ihn so hoch oben sah, ihre Arme nach seinen nackten Füßchen ausstreckte.
Paul