Fjodor Michejitsch erhob sich sofort von seinem Stuhl, nahm vom Fensterbrett eine elende Geige, faßte den Bogen, aber nicht am Ende, wie es sich gehört, sondern in der Mitte, stemmte die Geige gegen die Brust, schloß die Augen und fing an zu tanzen, wobei er ein Liedchen sang und auf den Saiten kratzte. Dem Aussehen nach mochte er siebzig Jahre alt sein; sein langer Nankingrock schlotterte traurig um seine trockenen, knochigen Glieder. Er tanzte; bald schüttelte er übermütig seinen kleinen, kahlen Kopf, bald bewegte er ihn wie ersterbend, bald reckte er den langen, sehnigen Hals, trampelte mit den Füßen auf einer Stelle und beugte ab und zu mit sichtbarer Anstrengung seine Knie. Aus seinem zahnlosen Mund kam eine altersschwache Stimme. Radilow hatte wohl an meinem Gesichtsausdruck erraten, daß die ›Kunst‹ Fedjas mir kein besonderes Vergnügen bereitete.
»Nun, schon gut, Alter, genug«, sagte er, »du darfst dir jetzt deine Belohnung holen.«
Fjodor Michejitsch legte sofort die Geige aufs Fensterbrett, verbeugte sich zuerst vor mir, als dem Gast, dann vor der Alten und zuletzt vor Radilow und ging hinaus.
»Der war auch einmal Gutsbesitzer«, fuhr mein neuer Bekannter fort, »sogar ein reicher, aber er hat sich ruiniert und lebt jetzt bei mir . . . Zu seiner Zeit galt er aber als ein Hauptkerl im ganzen Gouvernement; zwei Frauen hat er ihren Männern entführt, hat sich einen Sängerchor gehalten und auch selbst meisterhaft gesungen und getanzt . . . Aber ist Ihnen vielleicht ein Schnäpschen gefällig? Das Essen steht ja schon auf dem Tisch.«
Ein junges Mädchen, dasselbe, das ich flüchtig im Garten gesehen hatte, trat ins Zimmer.
»Ah, da ist ja die Olga!« bemerkte Radilow, den Kopf leicht zur Seite wendend. »Ich empfehle sie Ihrem Wohlwollen . . . Nun wollen wir zu Tisch.«
Wir begaben uns ins Eßzimmer und nahmen Platz. Während wir aus dem Gastzimmer gingen und Platz nahmen, sang Fjodor Michejitsch, dem nach der Belohnung die Äuglein glänzten und die Nase leicht gerötet war: »Siegesdonner soll erschallen!« Man hatte für ihn in einem Winkel auf einem kleinen Tischchen ohne Serviette eigens gedeckt. Der arme Alte zeichnete sich durch keine besondere Reinlichkeit aus, und darum hielt man ihn immer in einiger Entfernung von der Gesellschaft. Er bekreuzigte sich, seufzte auf und fing an zu essen wie ein Haifisch. Das Mittagessen war in der Tat nicht schlecht und lief, da es Sonntag war, nicht ohne zitterndes Gelee und spanischen Wind (ein Backwerk) ab. Während des Essens erging sich Radilow, der an die zehn Jahre in einem Infanterieregiment gedient und den türkischen Feldzug mitgemacht hatte, in Erzählungen; ich hörte ihm aufmerksam zu und beobachtete verstohlen Olga. Sie war nicht sehr hübsch; aber ihr energischer und ruhiger Gesichtsausdruck, ihre breite weiße Stirne, das dichte Haar, besonders ihre braunen, kleinen, aber klugen, leuchtenden und lebhaften Augen würden wohl auch auf jeden anderen an meiner Stelle Eindruck gemacht haben. Es schien mir, als verfolgte sie jedes Wort Radilows, wobei ihr Gesicht nicht Teilnahme, sondern eine leidenschaftliche, gespannte Aufmerksamkeit ausdrückte; Radilow konnte dem Alter nach ihr Vater sein; er sagte zu ihr ›du‹, aber ich begriff sofort, daß sie nicht seine Tochter sei. Im Laufe des Gesprächs erwähnte er seine verstorbene Frau. »Ihre Schwester . . .«, fügte er hinzu, auf Olga weisend. Sie errötete rasch und schlug die Augen nieder. Radilow schwieg eine Weile und brachte das Gespräch auf andere Dinge. Die Alte sprach während der ganzen Mahlzeit kein einziges Wort; sie aß selbst nichts und bot auch mir nichts an. Ihre Gesichtszüge atmeten eine gewisse furchtsame und hoffnungslose Erwartung, jene Alterstrauer, die das Herz des Beobachters so schmerzvoll zusammenpreßt. Gegen Ende der Mahlzeit begann Fjodor Michejitsch ein Loblied auf die Gastgeber und auf den Gast zu singen, aber Radilow sah mich an und bat ihn zu schweigen; der Alte fuhr sich mit der Hand über die Lippen, zwinkerte mit den Augen, verbeugte sich und setzte sich wieder, jetzt aber auf den äußersten Rand des Stuhles. Nach dem Essen begab ich mich mit Radilow in sein Kabinett.
Menschen, die dauernd und stark von einem Gedanken oder von einer Leidenschaft in Anspruch genommen sind, haben alle etwas Gemeinsames, eine eigentümliche äußere Ähnlichkeit im Benehmen, wie verschieden sonst ihre Eigenschaften, Fähigkeiten, ihre Stellung in der Welt und ihre Erziehung auch sein mögen. Je länger ich Radilow beobachtete, um so mehr gewann ich den Eindruck, daß er gerade zu solchen Menschen gehöre. Er sprach von der Landwirtschaft, von der Ernte, vom Heuschlag, vom Krieg, vom Klatsch des Landkreises und von den bevorstehenden Wahlen; er sprach ungezwungen, sogar mit Teilnahme, seufzte aber oft plötzlich auf und ließ sich in seinen Sessel sinken wie ein von schwerer Arbeit ermüdeter Mensch, wobei er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr. Seine warme und gute Seele schien ganz von einem Gedanken durchdrungen und erfüllt zu sein. Mich wunderte, daß ich bei ihm keinerlei Leidenschaft entdecken konnte, weder fürs Essen noch fürs Trinken, weder für die Jagd noch für die Kursker Nachtigallen, noch für die an der Fallsucht leidenden Tauben, noch für die russische Literatur, noch für Paßgänger, noch für ungarische Joppen, noch für Karten- oder Billardspiel, noch für Tanzabende, noch für Fahrten in die Gouvernements- und Residenzstädte, noch für Papier- und Zuckerfabriken, noch für buntbemalte Gartenpavillons, noch für Tee, noch für die sich beinahe unnatürlich biegenden Troikapferde, noch für die dicken Kutscher, die ihre Gürtel fast unter den Achseln trugen, für die großartigen Kutscher, bei, denen, Gott weiß warum, die Augen sich bei jeder Bewegung des Halses verdrehen und heraustreten . . . Was ist denn das für ein Gutsbesitzer!, dachte ich mir. Indessen spielte er durchaus nicht einen düsteren und mit seinem Schicksal unzufriedenen Menschen; im Gegenteil, sein ganzes Wesen atmete ein wahlloses Wohlwollen, Leutseligkeit und eine fast beleidigende Neigung, sich jedem Menschen, der ihm in den Weg kam, anzubiedern. Allerdings hatte man zu gleicher Zeit das Gefühl, daß er gar nicht imstande sei, sich jemandem in wahrer Freundschaft anzuschließen, und das nicht etwa, weil er keiner Menschen bedurfte, sondern weil sein ganzes Leben für eine Zeitlang nach innen gekehrt war. Wenn ich Radilow genauer betrachtete, konnte ich ihn mir unmöglich glücklich denken, weder jetzt noch überhaupt einmal. Schön war er auch nicht; aber in seinem Blick, in seinem Lächeln, in seinem ganzen Wesen war etwas außerordentlich Anziehendes verborgen, im buchstäblichen Sinn: verborgen. Man hatte unwillkürlich den Wunsch, ihn näher kennenzulernen, ihn liebzugewinnen. Allerdings kehrte er zuweilen doch den Gutsbesitzer und Steppenbewohner heraus; aber er war dennoch ein prächtiger Mensch.
Wir waren eben in ein Gespräch über den neuen Kreis-Adelsmarschall gekommen, als plötzlich hinter der Tür Olgas Stimme erklang: »Der Tee ist aufgetragen.«
Wir gingen ins Gastzimmer. Fjodor Michejitsch saß wie früher in seinem Winkelchen zwischen dem Fenster und der Tür, die Beine bescheiden eingezogen. Radilows Mutter strickte einen Strumpf. Durch die offenen Fenster zogen aus dem Garten herbstliche Frische und der Duft von Äpfeln herein. Olga schenkte geschäftig den Tee ein. Ich betrachtete sie jetzt aufmerksamer als beim Mittagessen. Sie sprach überhaupt sehr wenig, wie alle Provinzmädchen, aber man merkte an ihr wenigstens nicht das Bestreben, unbedingt etwas Gutes zu sagen, das sich gewöhnlich mit einem qualvollen Gefühl innerer Leere und Ohnmacht paart; sie seufzte nicht wie im Überschwang unaussprechlicher Empfindungen, rollte nicht die Augen, lächelte nicht träumerisch und rätselhaft. Sie blickte ruhig und gleichgültig wie ein Mensch, der von einem großen Glück oder einer großen Erregung ausruht. Ihr Gang und ihre Bewegungen waren energisch und frei. Sie gefiel mir sehr gut.
Ich kam mit Radilow wieder ins Gespräch. Ich weiß nicht mehr, wie wir auf die bekannte Bemerkung kamen, daß oft die unbedeutendsten Dinge auf den Menschen einen größeren Eindruck machen als die wichtigsten.
»Ja«, sagte Radilow, »das habe ich an mir selbst erfahren. Sie wissen, ich war verheiratet. Nicht lange . . . drei Jahre; meine Frau starb an einer Geburt. Ich glaubte, ich würde sie nicht überleben; ich war furchtbar betrübt, wie erschlagen, konnte aber nicht weinen, ich ging immer wie betäubt umher. Man hatte sie, wie es sich gehört, eingekleidet und auf den Tisch gelegt, hier in diesem selben Zimmer. Es kam der Geistliche; es kamen auch die Küster, sie fingen an zu singen, zu beten und zu räuchern; ich verneigte mich vor dem Sarg bis zur Erde, und doch kam mir keine einzige Träne. Mein Herz war wie versteinert, auch der Kopf, ich war ganz schwer geworden. So verging der erste Tag. Werden Sie es mir glauben? Nachts schlief ich sogar ein. Am anderen Morgen ging ich zu meiner Frau ins Zimmer – es war im Sommer, die Sonne beleuchtete sie