An jedem Donnerstage kamen die Stammgäste des Hauses zum Boston. Felicitas legte die Karten und die Fußwärmer vorher zurecht. Pünktlich um acht Uhr erschienen sie, und kurz vor Schlag elf gingen sie wieder.
Jeden Montag breitete der Trödler, der im Durchgange hauste, seinen Kram an der Erde aus. Dann war die Stadt voller Stimmengesumm, in das sich Pferdegewieher, Lämmergeblök, Schweinegegrunz und das harte Rattern der Karren auf dem Steinpflaster mischten. Gegen Mittag, wenn der Markt in vollem Gange war, erschien auf der Schwelle ein alter hochgewachsener Bauer mit einer Hakennase, die Mütze im Genick. Das war Robelin, der Pächter von Geffosses. Bald darauf stellte sich Liébard ein, der Pächter von Toucques, ein rotes, feistes Männchen in grauer Jacke und sporenklingenden Gamaschenstiefeln.
Beide brachten ihrer Gutsherrin Hühner und Käse dar. Felicitas verstand ihre Hinterabsichten immer irgendwie zu vereiteln, und voll Respekt vor ihr gingen sie von dannen.
Hin und wieder empfing Frau Aubain den Besuch des Barons von Gremanville. Das war ein Onkel von ihr, der sein Vermögen durchgebracht hatte und nun in Falaise auf dem letzten bißchen Anwesen lebte. Er stellte sich stets zur Frühstücksstunde ein, begleitet von einem scheußlichen Pudel, der mit seinen Pfoten alle Möbel beschmutzte. Wie angelegen er sich's auch sein ließ, alleweg als Edelmann zu erscheinen – was so weit ging, daß er jedesmal, wenn er »mein Vater selig« sagte, den Hut lüftete –, schenkte er sich doch, wie es seine Gewohnheit war, Glas um Glas ein und gab schlimme Geschichten zum besten. Felicitas nötigte ihn höflich hinaus: »Sie haben genug, Herr Baron! Aufs nächste Mal!« Und zu war die Tür.
Mit Vergnügen öffnete sie Herrn Bourais, einem ehemaligen Advokaten. Seine weiße Halsbinde und seine Glatze, das Jabot seines Hemds, sein weiter brauner Rock, seine Armhaltung, wenn er eine Prise nahm, kurz seine ganze Persönlichkeit versetzten sie in jene Erregung, die uns erfaßt, wenn wir einem ungewöhnlichen Menschen ins Auge schauen.
Da er die Güter der »gnädigen Frau« verwaltete, verbrachte er mit ihr ganze Stunden hinter verschlossener Tür im Arbeitszimmer des »gnädigen Herrn«. Er fürchtete immer, etwas Dummes zu sagen, hatte grenzenlosen Respekt vor den Behörden und tat, als ob er Latein verstünde.
Zur unterhaltsamen Belehrung schenkte er den Kindern eine Erdkunde mit Kupferstichen. Selbige stellten verschiedene Schauplätze derErde dar, federngeschmückte Menschenfresser, einen Affen, der eine junge Dame raubt, Beduinen in der Wüste, einen Wal, der mit Harpunen erlegt wird, und dergleichen mehr.
Paul erklärte Felicitas diese Stiche. Das war ihre ganze wissenschaftliche Bildung. Die der Kinder lag einem gewissen Guyot ob, einem armen Teufel, der im Rathause angestellt und wegen seiner schönen Hände berühmt war; er pflegte sein Messer am Stiefel zu wetzen.
Bei schönem Wetter ward am frühen Vormittag nach dem Gute Geffosses gewandert.
Der Hof lag lehnan, das Haus stand in der Mitte; in der Ferne schimmerte das Meer wie ein grauer Streifen.
Felicitas holte aus ihrem Handkorbe kalten Aufschnitt hervor, und in einem Zimmer neben der Molkerei wurde gefrühstückt. Das Gelaß war das einzige, was von einem verschwundenen Landhause übrig war. Die Tapete war zerfetzt und flatterte im Zugwind. Von Erinnerungen übermannt, ließ Frau Aubain den Kopf hängen. Die Kinder wagten nicht mehr zu reden. »Aber so spielt doch!« sagte sie. Da liefen sie hinaus.
Paul kletterte auf den Boden der Scheune, fing Vögel, flitschte Steine über den Teich oder schlug mit einem Stock auf die großen Fässer, die wie Trommeln dröhnten.
Virginia fütterte die Kaninchen, lief ins Feld nach Kornblumen, und ihre Beine flogen, daß man ihre gestickten Höschen sah.
An einem Herbstabende nahm man den Rückweg über die Weiden.
Der Mond, der im ersten Viertel stand, erhellte einen Teil des Himmels, und Nebel schwebte wie ein Band über den Windungen der Toucques. Rinder lagen im Gras und ließen die vier Menschen ruhig vorübergehn. Auf der dritten Hut erhoben sich ein paar und stellten sich in der Runde vor ihnen hin.
»Keine Furcht!« rief Felicitas und summte ein Liedchen vor sich her, während sie dem nächststehenden Tier mit der Hand übers Rückgrat strich. Es machte rechts um, und die anderen taten desgleichen. Aber als sie die folgende Hut hinter sich hatten, erscholl furchtbares Gebrüll. Es war ein Stier, den der Nebel verbarg. Er kam auf die beiden Frauen zu. Frau Aubain begann zu laufen.
»Nein, nein! nicht so schnell!«
Sie gingen aber doch rascher, hinter sich dumpfes Schnauben, das näher und näher kam. Hufe schlugen wie Hämmer auf den Grasboden. Jetzt galoppierte das Tier!
Felicitas wandte sich um, riß mit beiden Händen Erdklumpen aus und schleuderte sie ihm ins Gesicht. Der Stier senkte das Maul, schüttelte die Hörner und zitterte vor Wut, wobei er schrecklich brüllte.
Frau Aubain war mit ihren beiden Kindern an den Rand der Hut gelangt und trachtete in ihrer Angst irgendwie über den hohen Grenzwall zu kommen. Felicitas wich vor dem Stier schrittweise zurück, währenddem sie unaufhörlich Rasenstücke warf, die ihn blind machten.
Dabei rief sie: »Macht schnell! Macht schnell!«
Frau Aubain sprang in den Graben hinab, hob erst Virginia, dann Paul hinüber, strauchelte bei dem Versuche, die Böschung zu erklimmen, mehrmals, bot allen Mut auf und brachte es endlich zuwege.
Der Stier hatte Felicitas gegen ein Gatter gedrängt. Sein Geifer flog ihr ins Gesicht. Noch eine Sekunde, und er hätte sie aufgespießt. Sie hatte gerade noch Zeit, sich zwischen zwei Latten durchzuzwängen. Verblüfft blieb der mächtige Stier stehen.
Von diesem Ereignis redete man in Pont-l'Évêque noch nach Jahren. Felicitas bildete sich nichts darauf ein; ahnte sie ja nicht einmal, daß sie etwas Heldenhaftes getan hatte.
All ihr Augenmerk galt Virginia. Das Kind war infolge des Schreckens nervös geworden, und Herr Poupart, der Arzt, empfahl die Seebäder von Trouville.
Sie waren damals noch wenig besucht. Frau Aubain zog Erkundigungen ein, hielt mit Bourais Rat und traf Vorbereitungen wie für eine Weltreise.
Ihre Koffer gingen am Abend vorher auf Liébards Wägelchen voraus. Am andern Morgen kam er selber mit zwei Pferden, wovon eins einen Damensattel mit einer Samtlehne trug. Auf dem Rücken des zweiten bildete ein zusammengelegter Mantel eine Art Sitz. Frau Aubain stieg auf. Hinter ihr nahm Felicitas Platz, Virginia auf dem Schoß; und Paul setzte sich auf den Esel, den Herr Lechaptois unter der Bedingung bester Fürsorge gestellt hatte.
Der Weg war so schlecht, daß man zu den acht Kilometern zwei Stunden brauchte. Die Gäule versanken bis an die Fesseln im Kot; um wieder herauszukommen, mußten sie gehörig treten. Öfters stolperten sie über die Radgleise, und ab und zu mußten sie springen. An gewissen Orten blieb Liébards Stute plötzlich stehen. Er wartete geduldig, bis sie wieder anging, erzählte von den Leuten, denen die Felder an der Straße gehörten, und knüpfte moralische Betrachtungen an ihre Geschichte. So sagte er mitten in Toucques, als man unter Fenstern vorüberritt, die mit Kapuzinerkresse umrankt waren, achselzuckend:
»Hier wohnt eine Frau Lehoussais, die, statt einen jungen Mann zu heiraten … «
Das Weitere hörte Felicitas nicht. Die Pferde trabten, der Esel galoppierte. Man bog in einen Seitenweg ein. Ein Gattertor ging auf. Zwei Burschen erschienen, und am Misthaufen, dicht vor der Haustür, wurde abgesessen.
Mutter Liébard verlor sich beim Gewahrwerden der Grundbesitzerin in endlose Freudenbezeigungen. Sie tischte ein Frühstück auf, das aus einem Lendenbraten, Kaldaunen, Blutwurst, Hühnerfrikassee, Apfelschaumwein, Obstkuchen und Pflaumen in Rum bestand, und begleitete all das mit Komplimenten für die gnädige Frau, die »prächtig« aussehe, für das gnädige Fräulein, das »wunderhübsch« geworden sei und für Herrn Paul, der sich »riesig herausgemacht« habe. Auch vergaß sie »die seligen Großeltern« nicht, die die Liébards noch gekannt hatten, da sie schon seit mehreren